Aufmerksamkeit für Alltags­­momente: aus der Fotoserie »Gerda«, 2008-2010, ©? 2011 Uschi Huber, VG Bild-Kunst, Salon Verlag

Eine aus der Nachbarschaft

Das Stollwerck-Mädchen auf dem Severinskirchplatz ist eine klassische Bronzeplastik. Was tagtäglich mit ihr passiert, ist Freestyle. Die Künstlerin Uschi Huber hat sie drei Jahre lang fotografiert, jetzt ist ihr Buch »Gerda« erschienen. Was haben Sie sich dabei gedacht, Frau Huber?

Da ich in der Nähe wohne, führen meine Wege häufig an ihr vorbei. Anfangs habe ich sie mehr oder weniger ignoriert, bis mir die immer neu um sie herum arrangierten rot-weißen Straßenpoller auffielen. Ab da habe ich darauf geachtet, was hier fast täglich an ihr passiert und es immer wieder fotografiert.

 

Als Skulptur und Kunstwerk an sich ist sie nicht interessant. Sie ist sehr illustrativ und ganz volkstümlich gestaltet. Interessant ist ihre Geste: Sie bietet auf ihrem aufgestützten Knie eine Packung Pralinen an. Und sie ist im Viertel gleichzeitig die einzige Sitzmöglichkeit weit und breit, insofern ist sie ein wichtiges Stück städtischer Infrastruktur. Im Mittelpunkt stehen für mich die ständigen Veränderungen und Eingriffe, denen sie ausgesetzt ist, die aber nie von mir selbst stammen. Es kommt zu einer skulpturalen Erweiterung, durch viele anonyme Autoren wie Passanten oder städtische Angestellte, die die Figur mit unterschiedlichen Funktionen belegen. Die Spuren, die das hinterlässt, zeigen, dass sie sehr stark ein Teil der urbanen Umgebung ist, einem Knotenpunkt aus belebter Einkaufsstraße und Kirchplatz.

 

Je länger ich Gerda beobachtet habe, insgesamt drei Jahre, desto feiner wurden die ­Details, die ich an ihr als wichtig wahrnahm. Der zeitliche Faktor spielt eine große Rolle, auch der stark serielle Charakter der Foto­serie. Die unspektakulär gehaltenen Beobachtungen zeigen die Situation aus verschiedenen Perspektiven, das lässt sich in Buchform optimal präsentieren.

 

Als Denkmal erinnert sie an die Ar­beiterinnen der Schokoladenfabrik um 1900. Die meisten Menschen im Viertel wissen das, oder sie lesen die kleine Plakette an dem dazugehörigen Brunnen. Ich finde diese geschichtliche Ebene mit der Anspielung an die frühen weiblichen Industrie-Arbeiterinnen im 19. Jahr­­hun­dert sehr interessant. Sie kommt ja im Bild in Beziehung mit den aktuellen Ereignissen, z.B. den billigen Aldi-Verpackungen, die auf ihr platziert werden. Als unterprivilegierte ­Arbeiterin hat sie ironischerweise die starke Tendenz alles zu dominieren, was auch immer mit ihr geschieht.

 

Die Zuwendung der Passanten reicht von Blumengaben bis zu sanfterem Vandalismus. Sie ist, denke ich, nicht so sehr Kunstwerk, sondern »eine aus der Nachbarschaft«, man begegnet ihr auf Augenhöhe und ihr dümmliches Lächeln scheint für viele wohl vertraueneinflößend zu sein. Sonst würde man ihr ja auch nicht seinen Hund anvertrauen, während man einkauft. Beim Rosenmontagszug verschwindet sie in einem Bretterverschlag, ich nenne das ihren Sarg. Daran sieht man auch, dass so eine klare Vereinfachung der Form unglaublich wohltuend wirkt, egal aus welchen Gründen sie hergestellt wird.

 

Was gute Kunst im öffentlichen Raum ausmacht? Schwer, das generell zu sagen, aber ich schätze Kunst im öffentlichen Raum, die auf die Situation vor Ort eingeht, Zusammenhänge sichtbar macht und auch verändert, wie man sich darin bewegt oder wie man diesen Ort dann wahrnimmt. Schlimme Beispiele sind massenhaft zu finden, nicht nur auf den Inseln all der neuen Kreisverkehre. Ich mag in Köln zum Beispiel Wolf Vostells »Ruhender Verkehr« am Ring, der Betonklotz wirkt besonders beeindruckend, wenn man daneben im Auto im Stau steht.

 

Das »Schokoladenmädchen«, wie die Südstädter sie nennen, hat keinen Namen. Gerda ist meine Fiktion, es ist ein Name, den ich ihr gegeben habe. Im 19. Jahrhundert war das einer der häufigsten Frauennamen in Deutschland. So könnte auch eine der Stollwerck Arbeiterinnen geheißen haben. Und ich finde, er passt sehr gut zu ihr.

 

Die Skulptur stammt von dem Bildhauer Sepp Hürten,

geboren 1926 in Köln. Sie steht auf dem Severinskirchplatz?/?Ecke Severinsstraße.

»Gerda« ist erschienen im Salon Verlag, Köln 2011,

64 S., 96 Abb., 22,00 €