Die letzten ihrer Art
»Schönes Halstuch haben Sie an, Frau Sallandt«, sagt Hans Christian Sittig, legt der alten Dame ein Lätzchen auf und rührt eine Schale mit Joghurt um. »Ich gebe Ihnen ein bisschen was. Schmeckt’s?«
Sittig ist im Seniorenheim Residenz am Dom als Zivildienstleistender beschäftigt. Er ist einer der letzten in Köln. Denn mit der Aussetzung des Wehrdienstes zum Juli 2011 fällt auch der Zivildienst. Sittigs letzter Arbeitstag ist der 30. Juni. Der 19-Jährige kommt aus Trier und ist für den Zivildienst mit zwei ehemaligen Schulkameraden nach Köln gezogen. »Ich wollte in eine größere Stadt«, erzählt er. Zum Wintersemester möchte er Maschinenbau, Produktdesign oder Industriedesign studieren.
Er mag die Arbeit im Seniorenheim. Von ursprünglich sechs hat er seine Dienstzeit auf neun Monate verlängert. Die Zeit sei eine wertvolle Erfahrung gewesen, sagt er. Im Umgang mit den alten Menschen sei er zum Beispiel geduldiger geworden. Auch Frau Sallandt wird ihn vermissen. »Es war immer sehr nett, sich mit den jungen Männern zu unterhalten«, sagt sie.
Nicht alle Zivis aber kümmern sich um ältere Menschen. In einer großen Halle in Lindweiler hängen Seile und Trapeze von der Decke, Tonnen und Matratzen liegen auf dem Boden, eine kleine Manege versprüht Zirkusflair. Unweigerlich kommt einem die Melodie vom »Einzug der Gladiatoren«, dem wohl bekanntesten Zirkusmarsch, in den Kopf. Kinder fahren auf Einrädern durch die Halle, ein Mädchen nutzt als Halt den Besenstiel, den Emanuel Dymczyk vor sich herträgt.
Der 20-Jährige absolviert seinen Zivildienst im Kinder- und Jugendzirkus Linoluckynelli – einem Projekt des sozialen Zentrums Lino-Club, einem freien katholischen Träger der Jugendhilfe im Kölner Norden. »Die Einradstunde ist aber noch nicht zu Ende«, ruft Dymczyk zwei Kindern zu, die auf den Matratzen rumlungern. Die beiden stehen auf und fahren am Drehpilz, wie sie den Kreisel nennen, an dem sie sich beim Fahren festhalten können. »Der Zug fährt los!«, rufen sie.
Wenn in einer Theaterinszenierung eine Rolle gestrichen wird, dann sind immer zwei Schauspieler davon betroffen: die erste und die zweite Besetzung. Im Fall der Bundeswehrreform steht die erste Besetzung im Vordergrund: der Wehrdienst. Dass die zweite Besetzung, der Zivildienst, längst nicht mehr nur Ersatz, sondern ein wichtiger Teil des Systems ist, wird oft verschwiegen. Stattdessen geht es um verteidigungspolitische Folgen, um Kosten und Nutzen für die Bundeswehr. Die Auswirkungen auf soziale Einrichtungen spielen kaum eine Rolle.
Grundsätzlich ist der Zivildienst per Gesetz arbeitsmarktneutral: Durch die Zivis dürfen keine gewöhnlichen Arbeitsplätze ersetzt werden. Doch den Titel »billige Arbeitskräfte« tragen sie nicht umsonst.
Dass der Wegfall der Zivildienstleistenden für soziale Einrichtungen angesichts des oft beschriebenen Pflegenotstands zu verkraften ist, glaubt Jörg Schmitz. Die Betreuung könne gewährleistet werden und hänge nicht von den Zivildienstleistenden ab, erklärt der Geschäftsführer des Bereichs Seniorendienste bei der Diakonie Michaelshoven. Man würde die Zivis zwar vermissen, das schon. Aber die Arbeit breche nicht zusammen.
Besorgter ist Detlef Silvers. Der Wegfall sei von großer Bedeutung, befürchtet der Geschäftsfeldleiter der Stationären Betreuung bei der Caritas Köln. Die jungen Männer hätten in den Einrichtungen zusätzliche Tätigkeiten übernommen, die nicht durch die Hauptamtlichen geleistet werden könnten, wie etwa für die Senioren einzukaufen. Wenn die Zivis gehen, seien diese »Sahnehäubchen« ein Mehrwert, der fehle. Zudem steige die Belastung für die Hauptamtlichen. Hätten bisher etwa zwei Hauptamtliche und ein Zivi einen Lesekreis oder eine Kochgruppe angeboten, so werde die Arbeit in Zukunft auf die zwei Hauptamtlichen verteilt werden müssen.
Auch die letzten Zivis halten das Ende des Zivildienstes für bedauernswert. Die Zeit im Zirkus sei für ihn auch eine Phase gewesen, in der er sich orientierte, zieht Dymczyk Bilanz. Und nun sei er in dem Entschluss bestärkt, »auch beruflich etwas Soziales zu machen«.
»Ich bin froh, dass der Zivildienst erst nach mir abgeschafft wurde«, sagt auch Sittig. Es sei manchmal zwar traurig, wenn man sehe, »wie die Leute abbauen«. Aber man müsse sich auf die soziale Arbeit einfach einlassen. Daran wie er mit Frau Sallandt umgeht, spürt man, dass er das getan hat. Souverän reicht er ihr das Essen, prüft zwischendurch, ob der Kaffee noch heiß ist. Und er plaudert mit ihr. Sie reden über das Wetter, den Handwerkerlärm, von dem beide hoffen, dass er bald aufhört.
Sittig erfährt auch etwas über die 89-Jährige. Die Schreibmaschine, die im Wohnzimmer der Station steht, hat einmal Frau Sallandt gehört. Sie erzählt, dass sie früher viel geschrieben hat. »Bei den Veranstaltungen für die Bewohner der Residenz kommt man nah an die Leute ran«, berichtet Sittig. Diese Aktionen seien für ihn die Höhepunkte gewesen. Wie etwa die Schiffsfahrt. Oder die Weihnachtsfeier, auf der er den Nikolaus spielte.
Dass die fehlenden Zivis durch Freiwillige ersetzt werden könnten, glaubt Sittig nicht. Eben das hofft aber die Bundesregierung. Mit dem Bundesfreiwilligendienst hat sie ein Angebot geschaffen, das Männern und Frauen jeden Alters offen steht. Der Dienst kann von einem halben bis zu zwei Jahren dauern. Die Informationen zum Konzept sind noch dürftig, einige Schwachstellen dagegen schon deutlich. So wird im Gegensatz zum Freiwilligen Sozialen Jahr beim Bundesfreiwilligendienst kein Kindergeld gezahlt. Anreize sehen anders aus.
Man hätte ein besseres Ersatzkonzept erarbeiten können, mit dem man junge Leute erreicht, indem man zum Beispiel in den Schulen darüber informiert, schlägt Elisabeth Römisch vor. Die Fachbereichsleiterin bei der AWO Köln ist zuständig für die Seniorenzentren Ehrenfeld und Südstadt. Auch sie bedauert, dass die Zivildienstleistenden in Zukunft ausbleiben werden. Denn die Seniorenzentren seien auf junge Leute angewiesen. Sie seien vor allem für die Bewohner wichtig, denn sie brächten Neues ein. Römisch erinnert sich auch daran, wie der erste Zivildienstleistende mit Piercing die Bewohner schockierte und für reichlich Gesprächsstoff sorgte.
Emanuel Dymczyk vom Kinder- und Jugendzirkus will bald sein Studium aufnehmen. Am liebsten möchte er in Köln Soziale Arbeit studieren. In seiner Schulzeit war er Leistungssportler im Schwimmverein und hat dort schon viel mit jüngeren Kindern zu tun gehabt. An der Arbeit im Zirkus gefällt ihm vor allem die Abwechslung. Und die alltägliche Herausforderung. »Man muss die Kinder erst mal dazu bringen, das zu machen, was man will«, sagt er. Nicht immer sei seine Arbeit einfach. Bei einem Kindergeburtstag im Zirkus beispielsweise habe er einmal in mühsamer Kleinarbeit eine Pyramide aus Bechern aufgebaut. Dann aber kam ein Kind und warf alles wieder um, noch bevor die Geburtstagsparty begonnen hatte. »Das hat genervt«, gibt Dymczyk zu.
Im Seniorenheim am Dom geht es ruhiger zu als im Zirkus. Aber nicht weniger lustig. »Frau Sallandt, schaffen Sie einen Salto wie im Zirkus?«, fragt Sittig etwas keck. »Ganz bestimmt!«, sagt sie und lacht.