»Was soll man schon gross reden«

Ein junger russischer Schriftsteller macht derzeit in Deutschland Furore: Alexander Ikonnikow. Sein erstes Buch heißt »Taiga Blues« und erzählt Geschichten vom postsozialistischen Alltag in der russischen Provinz. Während seiner vierwöchigen Lesereise durch Deutschland machte er auch in Köln Station.

Sieben Jahre lang hat er Germanistik studiert, sein Lieblingsfach war praktische Phonetik: »Das habe ich jetzt davon«, sagt Alexander Ikonnikow in nahezu akzentfreiem Deutsch und bittet irgendwann später im Gespräch um Geduld. Schließlich spreche er nicht in seiner Muttersprache – was man leicht unterschätzt, wenn man ihn reden hört und auf die Interviewfragen ausführliche Antworten erwartet. Aber der Autor liebt es knapp, nicht nur beim Sprechen, auch beim Schreiben.

Totgeschlagene Zeit

Die weitaus längste der 44 Erzählungen aus »Taiga Blues« ist gerade mal 15 Seiten lang. »Nachbarn« lautet ihr Titel, sie spielt in einem Wohnblock in einer namenlosen Stadt. Die Raucher unter den Nachbarn aus dem vierten Stock treffen sich täglich auf dem gemeinsamen Balkon. Auf eine gewisse Weise erinnert diese Szenerie an die plaudernden Menschen in den Gärten Tschechows. Aber natürlich erzählt Alexander Ikonnikow nicht von der Langeweile der Adligen, seine Figuren sind kleine Angestellte, Lehrer, Prostituierte, Arbeitslose. Sie sitzen auf dem Balkon, rauchen, trinken, reden und streiten. Sie schlagen die Zeit tot und räsonnieren über die Unveränderlichkeit der russischen Gesellschaft. »Ich bin Fatalist«, sagt jemand in einer anderen Erzählung. Und letztlich trifft das auf fast alle Figuren in diesem Buch zu.

Vergessene Provinz

Alexander Ikonnikow erzählt vom Alltag im postsozialistischen Russland. Seine Geschichten spielen fernab der großen Zentren Moskau oder St. Petersburg. Sie führen in die Provinz, dorthin, wo die Zeitenwende nur sehr zögerlich einsetzt. »Fatalismus«, sagt Ikonnikow, »ist ein sehr wichtiger Teil des Lebens in der russischen Provinz, weil der Staat die Leute praktisch vergessen hat. Es kann vier Monate dauern, bis man sein Gehalt bekommt. Und dem einfachen Mann bleibt dann nichts anderes übrig als zu klauen oder eben Wodka zu trinken.«
Der Autor selbst lebt in Kirow, einer Stadt, die etwa 800 Kilometer östlich von Moskau liegt und ungefähr so groß ist wie Frankfurt a. M. »Aber nach russischen Verhältnissen«, sagt er, »ist es immer noch eine Provinzstadt«. Sie lebt von der Rüstungsindustrie und war deshalb lange Zeit für Besucher aus dem Ausland gesperrt. Nun legt Alexander Ikonnikow große Gastfreundlichkeit an den Tag: »Seit 1992 ist Kirow eine offene Stadt, Sie sind immer herzlich willkommen, wenn Sie Lust haben.«

Reise zu den Panzern

Per Anhalter reist Alexander Ikonnikow oft über Land, er weiß, worüber er schreibt, und er tut das schonungslos: Seine Erzählungen zeigen die Härte der Armut, die alltägliche Katastrophe der Mangelwirtschaft und der Korruption. Ikonnikov hat eine Lieblingsgeschichte, es ist die letzte im Buch. »Gott mit dir, Kirjuscha« lautet ihr Titel. Kirjuscha liegt in der Gosse, voller Kot. Jemand kommt vorbei und flüstert ihm ins Ohr: »Du sollst mehr reisen, Kirjuscha.« Er erzählt ihm von Kasachstan: »In der Steppe habe ich einen Abstellplatz für Panzer gesehen. Kannst du dir das vorstellen? Ohne Absperrung, ohne jede Bewachung. Bis zum Horizont nur Panzer. Bestimmt zwanzigtausend! Weiß der Kuckuck, wieso die da stehen! Sie stehen einfach da und rosten. Unser Land ist reich, Kirjuscha. Na siehst du, jetzt geht’s dir schon besser – du lachst ja. Ich lache auch Kirjuscha, ich auch.«
Nie gleitet Ikonnikov in Sozialkitsch ab, dazu sind seine Geschichten zu grotesk und zu komisch. Tränenselige Sentimentalität überfällt nur seine Figuren, insbesondere wenn, wie so oft, Wodka mit im Spiel ist. Der Autor fürchtet sich allerdings keineswegs vor der Melancholie, die fast alle seine Erzählungen durchzieht – jedoch stets gebrochen von absurdem Witz.

Von Trägen und Fremden

»Chronik eines siebenjährigen Krieges« heißt das knapp zweieinhalbseitige Protokoll einer Vertreibung. Ein Fremder lässt sich in einem Dorf nieder und versucht emsig und einfallsreich dort eine Existenz aufzubauen. So viel Eigeninitiative schreckt die Dörfler und beschwört ihren Neid herauf. Sie drangsalieren den Fremden mit bürokratischen Hürden und brutaler Gewalt so lange, bis sie den Eindringling vertrieben und die einheitliche Armut und Trägheit wieder hergestellt haben. Diese Geschichte ist in ihrer spröden Knappheit so drastisch, dass sie den Leser verstört. Der Erzähler hingegen berichtet ohne jeden Ton der Empörung; es gibt kein moralisches Urteil und auch keine Erklärung.

Unbequemes Russlandbild

Für ein Erstlingswerk ist »Taiga Blues« erstaunlich stilsicher und präzise. Ironisch spielt der Autor mit dem klassischen Formenrepertoire der Anekdote, des Märchens, der politischen Parabel. Wenn deutsche Literaturkritiker mitunter argwöhnen, dass seine Geschichten sich nahe am Klischee bewegen, so kontert Ikonnikow, dass es keine Klischees sind: »Wenn Sie mir nicht glauben, fahren Sie einmal nach Russland.« Dort allerdings hat der 28-jährige Nobody aus der Provinz derzeit kaum eine Chance auf Veröffentlichung, ihm fehlen Kontakte zu Verlagen. Nur für Zeitungen hat er ein paar Mal geschrieben, unter Pseudonym und nicht besonders erfolgreich: »Das Bild, das meine russischen Redakteure von Russland haben wollen, fällt mit meinem Bild nicht zusammen.«

Auf Umwegen nach Deutschland

Nach Deutschland gekommen sind seine Texte auf verschlungenen Wegen, eine deutsche Fotografin und ein deutscher Publizist haben Alexander Ikonnikows literarisches Talent entdeckt. »Ich habe 1997 angefangen ein bisschen zu schreiben«, erzählt Ikonnikow, »da habe ich als Dolmetscher die Frankfurter Fotografin Annette Frick auf ihren Reisen in Russland begleitet. Sie hat mich gefragt, ob ich nicht ein paar Texte in ihrem Fotoband veröffentlichen könnte.« Der Band heißt »Ausflug auf der Vjatka«. Kirow liegt an der Vjatka, die Fotos erzählen von den gleichen Menschen wie Alexander Ikonnikows Geschichten. Es sind eigenwillige Schwarzweißaufnahmen, reich an Grautönen, arm an Kontrasten. Einfühlsame Alltagsbeobachtungen voll skurrilem Witz, der jeden Anflug von Nostalgie im Keim erstickt. Der Fotoband mit den sechs kurzen Erzählungen fiel Gerd Koenen in die Hände, er machte den jungen russischen Autor ausfindig. »Er hat mich da auf dem Dorf angerufen, wo ich inzwischen meinen Zivildienst als Dorfschullehrer machte«, erinnert sich Ikonnikow, »und er fragte, ob ich nicht noch mehr Texte habe, man könne vielleicht ein Buch daraus machen.«

Schreiben in fremder Sprache

Und so erschien sein erstes Buch in der fremden Sprache, die er nicht nur phonetisch gut beherrscht, die ihm aber zugleich auch fremd ist. Er hat seine Texte einer Übersetzerin überlassen, die ihre Arbeit hervorragend gemacht hat. Auf seiner Lesereise durch Deutschland tritt er vor großem Publikum auf: »Das ist ein ganz sonderbares Gefühl, ich habe nicht erwartet, dass das Buch so einen Erfolg hat.« Und was gefällt ihm selbst so sehr an der kurzen Form? »Was soll man schon groß reden, wir verstehen uns doch sowieso.« Ach ja? »Der wahre Grund ist, ich bin einfach zu faul, um lange Texte zu schreiben.« Das ist gelogen, im Klappentext von »Taiga Blues« verkündet der Verlag, Alexander Ikonnikow schreibe an seinem ersten Roman. »Das stimmt.« Und wovon handelt dieser Roman? »Das kann ich nicht verraten.«

Alexander Ikonnikow: Taiga Blues. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke, Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 174 S., 14.90 €.

Annette Frick: Ausflug auf der Vjatka. Fotografien aus Russland mit Geschichten von Alexander Ikonnikow, Rosenfeld Verlag bei vividprojects, Frankfurt a.M. 1998, 151 S., 29.75 €. (Bezug über den Buchhandel oder über info@vividprojects.de)