Mein Fanon, dein Fanon

Die Psychologin und Zeitgenossin Alice Cherki schreibt ein Porträt über das kurze Leben und radikale Denken von Frantz Fanon

Frantz Fanon? »Das ist ganz bestimmt ein Oberst ... ein französischer Oberst!« spekuliert eine Schülerin aus Algier, die auf das nach ihm benannte Gymnasium geht. Der Autorin Alice Cherki dient sie als Beispiel für eine sich rapid ausdehnende Unkenntnis. Das dürfte in Deutschland nicht anders sein. Wenn überhaupt, werden die meisten mit dem Namen Fanon irgendwas mit »Dritte Welt« und »Befreiungskampf« assoziieren und sich ein »unzeitgemäß« dazudenken. Während an den amerikanischen und britischen Universitäten der Theoretiker Frantz Fanon Mitte der 90er wieder im Kontext der Cultural Studies auftauchte, der afro-britische Filmemacher Isaac Julien mit seiner dichten, ästhetisch ausgefuchsten Doku-Fiction »Black Skin, White Mask« die Aufmerksamkeit vor allem auf den Psychiater Frantz Fanon lenkte, interessierte man sich hierzulande eigentlich für gar keinen Fanon mehr.
In diesem Vakuum erscheint nun das Fanon-Porträt von Alice Cherki und spannt einen weiten Bogen. Alles hat miteinander zu tun: Zeit (1925-1961), Orte und Ortswechsel (Martinique, Frankreich, Algerien), Arbeit (Psychiatrie), Engagement und Theorie (Befreiungskämpfe und Bücher schreiben). Alice Cherki erzählt mit nüchterner Emphase von einem Frantz Fanon, der ein leidenschaftliches und kompromissloses Denken entwickelte: Alles ist Bastard und das ist gut so. Dass Alice Cherki in Algier in einer jüdischen Familie aufwuchs, mag ihren Blick für Außenseiterpositionen geschärft haben. Heute lebt sie in Paris und arbeitet als Psychiaterin und Psychotherapeutin. Frantz Fanon lernte sie in der Psychiatrie im algerischen Blida als Kollegen kennen und schätzen. Dorthin hatte es den jungen Arzt Mitte der 50er Jahre verschlagen, weil er sich für die Geisteskrankheiten der Kolonisierten mehr interessierte als für die der Kolonisatoren. Was er dort vorfand, muss eher einem Gefängnis denn einer Heilanstalt geglichen haben.

Rassismus statt Gleichheit

1925 in Martinique geboren und aufgewachsen – was heißt das genau? Als Sohn einer Französin und eines Antillesen muss man sich Fanons Kindheit eher privilegiert und unbeschwert vorstellen. Fanon betont in seinem Essay »Für eine afrikanische Revolution« das ironische Verhältnis, das die meisten Antillesen zur Hautfarbenskala hatten und beschreibt die sozialen Hierarchien als relativ durchlässig. Das ferne Frankreich hielt man für ein verheißungsvolles Land und die Franzosen für gute Menschen. Diese Situation änderte sich 1939, zu Beginn des Krieges, nachhaltig, als die Insel von einigen tausend »gestrandeten« französischen Marinesoldaten für einige Jahre belagert wurde. Fanon diente dennoch freiwillig der französischen Armee, entschlossen, Werte wie Freiheit und Gleichheit zu verteidigen. Die Lektion aber, die er dabei lernte, hieß Rassismus.
Wenige Jahre später, während er sich in Frankreich zum Psychiater ausbilden lässt, schreibt er das Buch »Schwarze Haut, Weiße Masken«: Eine Mischung aus Alltagserfahrung und psychoanalytischer Abstraktion, eine Analyse des Verhältnisses zwischen Kolonisator und Kolonisiertem und der tief sitzenden mentalen Schäden, die daraus entstehen. Für Frankreich war das Buch bei Erscheinen 1952 ein Affront. Alice Cherki: »Dass schwarze Schriftsteller ihr Unbehagen in der Poesie oder im Roman äußern, wird langsam zur Kenntnis genommen und auch anerkannt« – dass aber einer in der Domäne Psychologie/Theorie/
Philosophie die subtilen Mechanismen von Rassismus verhandelt und den Franzosen einen Spiegel vorhält, ging selbst den meisten sich als links verstehenden Intellektuellen zu weit.

Universalismus vs. Negritude

Im Paris Ende der 40er, Anfang der 50er hätte sich Fanon auch den jungen Intellektuellen aus afrikanischen Kolonien anschließen können, die das ihnen zugeschriebene Anders-Sein zu einer strategischen, philosophischen Haltung wendeten, die sie »Negritude« nannten. Das war ihr »Black is beautiful« und vielleicht ihr eigentliches Exil. Fanon hielt dies für eine fatale Sackgasse. Sein Essay »Für eine afrikanische Revolution« beginnt mit den Sätzen: »Ich möchte zum Beispiel behaupten, dass der Feind des Negers häufig nicht der Weiße ist, sondern seinesgleichen.« Und: »Bevor wir in die Debatte einsteigen, möchten wir bemerken, dass diese Geschichte des Negers eine schmutzige Geschichte ist. Eine Geschichte, die euch den Magen umdrehen wird.« Fanon hatte kein Interesse daran, sich in eine Nische zurückzuziehen und begab sich bewusst immer wieder an Orte, an denen er nicht willkommen war. Gegen die »Negritude« hielt er, ähnlich wie Patrice Lumumba, den Universalismus, gegen jede Vorstellung von Reinheit den Bastard und über die leidige Frage der Identität beliebte er zu scherzen. Will man die Frage nach der »Aktualität« von Fanon beantwortet haben, ist es wohl genau dieses Prinzip des Bastard-Denkens, oder, wie Alice Cherki es nennt, das »Denken in Bewegung« von einem, der immer wieder zwischen allen Fronten agierte.

Hintergründe

Alice Cherki kontextualisiert und ordnet ein. Sie bleibt nie nur bei Fanon. Erzählt sie von seiner Zeit bei der Armee, erzählt sie gleichzeitig davon, welche Rolle die Afrikaner während des Krieges für Frankreich spielten, schreibt sie von »Fanon in Blida«, so stellt sie dem Kapitel eine ausführliche Topografie des kolonialen Algiers voran. Mit diesem Wissen um die Entstehung von Fanons Schriften, zeigen sich die Verschiebungen, Missverständnisse und Vereinnahmungen der Fanon-Rezeption um so genauer. Zehn Jahre nach »Schwarze Haut, Weiße Maske« schreibt etwa Jean Paul Sartre ein flammendes Vorwort zu den »Verdammten dieser Erde« und man könnte meinen, Fanon wäre nun ein Held. Das Buch war jedoch explizit für Leser und Leserinnen in Afrika geschrieben und nicht für europäische Drittweltengagierte – Cherki merkt an: »Vor allem rechtfertigt Sartre die Gewalt, während Fanon sie analysiert.« Fanon kann darauf nicht mehr reagieren. Er hatte das Buch mit letzter Kraft diktiert und verstarb kurz nach Erscheinen mit 36 Jahren an Leukämie – Fanon soll Menschen nicht gemocht haben, die mit ihren Kräften haushalten.

Alice Cherki: Frantz Fanon. Ein Porträt. Edition Nautilus, Hamburg 2002, 349 S., 24,90€.