Ohne Worte: Giuseppe Fuda und eine namenlose Ziege

Magisches Denken

Ein kleines Filmwunder: Michelangelo Frammartino führt uns in Vier Leben in das Paralleluniversum der Steine, Tannen und Ziegen

»Vier Leben« ist ein Film fast ohne Menschen. Er gliedert sich in vier Episoden, und nur in der ersten steht ein Mensch, ein alter Ziegenhirte, im Mittelpunkt. Danach wendet sich Michelangelo Frammartinos Film einem Zicklein zu, später einer Tanne und am Ende einem Haufen Holzkohle. Dialoge gibt es, wenn überhaupt, nur als Gemurmel im Hintergrund, zwischenmenschliche Interaktionen sind selten, und was sie zu bedeuten haben, ist nicht immer auf Anhieb zu verstehen.

 

Frammartino drehte in den kalabrischen Bergen, kleine Dörfer, Almwiesen und Wälder bilden die Schauplätze. Souverän verschränkt er Dokumentarisches mit Fiktivem – mit dem Ergebnis, dass sein Film zum Aufregendsten zählt, was zurzeit im Kino zu sehen ist.

 

Ein Grund dafür liegt in der Genauigkeit, mit der der 1968 in Mailand geborene Regisseur, Kameramann Andrea Locatelli und die Schnittmeister Benni Atria und Maurizio Grillo vorgehen. Die Wahl der Bildausschnitte, die Wiederholung einzelner, markanter Einstellungen und deren Montage vermitteln einen besonderen Zugang zum filmischen Raum. Dadurch gewinnt man im ersten Teil den Eindruck, das Dorf mit seinen engen, steilen Gassen, seinen kleinen Häusern, seinen Hohlwegen und Weideflächen sehr genau kennenzulernen. Selbst wenn nur ein Ausschnitt zu sehen ist, entwickelt man allmählich ein Gespür dafür, wie es jenseits des Bildrands weitergehen oder wie es hinter einem Haus aussehen mag, dessen Vorderansicht gerade in einer Totalen eingefangen wird. Jedes Bild scheint sich dessen, was in oder jenseits von ihm verborgen liegt, bewusst.

 

Auch die Bewegungen von Menschen, Tieren und Objekten nehmen in der klar konturierten Umgebung deutlich Gestalt an. Etwa so: Der alte Hirte, Protagonist des ersten Teils, legt einen Ziegelstein auf den Deckel eines Blechtopfs. Die Kamera schaut sich das aus einem Winkel der kleinen, spärlich eingerichteten Küche an. Im Blechtopf sind lebende Weinbergschnecken, dort sollen sie bleiben, zum Beschweren des Deckels dient der Stein. Als der Hirte am Abend aus den Bergen zurückkehrt, sind die Schnecken, man weiß nicht wie, entkommen. Der Stein liegt auf dem Tisch, der Blechdeckel daneben, die Tiere kriechen über die Holzplatte, am Topfrand entlang und über die Stuhllehne. Der Alte wirft den Stein durchs Fenster auf die Straße. Am nächsten Morgen legt ihn ein Lieferwagenfahrer hinter ein Rad seines Wagens, um zu verhindern, dass das Gefährt die abschüssige Straße hinabrollt.

 

Doch auch dieser Plan geht nicht auf. Der Hund des Hirten spielt mit dem Stein, der Wagen rollt die Straße hinunter. Was er dabei anrichtet, bleibt dem Blick zunächst verborgen, da die Kamera just in diesem Augenblick einen Schwenk macht. Aus dem Off hört man einen Aufprall. Als die Kamera nach einer Weile zum Ort des Unfalls zurückschwenkt, steht der rote Wagen mitten im Ziegenpferch, der Zaun ist kaputt, die Ziegen verteilen sich auf der Straße, der Hund bellt und rennt umher. Die Pointe dieses hübschen Slapsticks wird durch den Schwenk lakonisch unterspielt und wirkt gerade deshalb doppelt.

 

So wie der Stein von Einstellung zu Einstellung wandert, so tut dies auch andere Materie, Holzkohle etwa oder der Staub in der Luft in einer Kirche. Zunächst sieht man ihn im Gegenlicht funkeln, dann auf dem Boden, vor dem Handfeger der Zugehfrau, später als kleines Häuflein in einem Kuvert, das die Frau aus einer Illustriertenseite gefaltet hat. Und noch später schüttet ihn der alte Hirte in sein Wasserglas. Man kann dem Staub wie dem Stein dabei zuschauen, wie er sich durch den Film bewegt, und diese Wanderungen hören an den Endpunkten der einzelnen Episoden nicht auf.

 

Am Ende des ersten Teils etwa schließt sich eine Steinplatte vor einer Grabnische, die Kamera ist in der Nische, dort, wo man den Sarg vermutet. Es wird für einige Sekunden dunkel. Nach der Aufblende gleitet ein Zicklein aus einer Ziege heraus, unsanft plumpst das Neugeborene auf den Stallboden und beginnt rasch zu meckern, bevor es schließlich auf seinen dünnen, staksigen Beine steht. Wer seiner Fantasie freien Lauf lässt, mag im Zicklein einen Wiedergänger des Toten sehen. »Vier Leben« drängt dieses Einverständnis mit einem magischen Denken – das sich im Süden Italiens eher gehalten haben mag als in stärker industrialisierten Gegenden Europas – nicht auf, legt es aber durchaus nahe.

 

Je länger Frammartinos Film andauert, umso bereitwilliger entsagt man dem anthropozentrischen Blick. »Die Biene, die Libelle oder die Fliege«, hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben einmal geschrieben, »die wir an einem sonnigen Tag neben uns fliegend beobachten, bewegen sich weder in derselben Welt, in welcher wir sie beobachten, noch teilen sie mit uns – oder unter sich – dieselbe Zeit und denselben Raum.« Das Kunststück, das »Vier Leben« gelingt, ist, dass man für die Dauer des Films zumindest einen Schritt weit in die Paralleluniversen eindringt, die den Staubkörnern, Steinen, Tannen und Ziegen gehören und in denen ganz andere Maßstäbe als die uns bekannten gelten.

 

Vier Leben (Le quattro volte) I 2010, R: Michelangelo Frammartino, D: Giuseppe Fuda, Bruno Timpano, Nazareno Timpano, 88 Min.