Opfer und Täterin: Lubna Azabal

Die falsche Gleichung

Wuchtiges Nahost-Drama: Die Frau, die singt von Denis Villeneuve

Eins plus eins ist eins. Das ist die Gleichung, auf die »Die Frau, die singt« zustrebt. Ein Ding der Unmöglichkeit und doch ist es so. Was daran liegt, dass die Welt, in die der Film des Frankokanadiers Denis Villeneuve hineinführt, ungeheuerlich ist und in der Folge Ungeheuerliches hervorbringt.

 

»Die Frau, die singt« heißt im französischsprachigen Original »Incendies«, Brände. Die Geschichte umspannt einen Zeitraum von etwa 40 Jahren und entfaltet sich vor dem Hintergrund eines weltpolitischen Brandherds, des Nahostkonflikts. Ein Notar im Kanada der Gegenwart verliest ein Testament, das befremdliche Klauseln enthält: Die Verstorbene, eine gebürtige Libanesin, verfügt, nackt, mit dem Gesicht nach unten, ohne Sarg und ohne Grabstein bestattet zu werden. Der Stein darf erst aufgestellt werden, wenn die Kinder der Toten zwei Briefe überbracht haben: einen an ihren Vater, einen anderen an ihren Bruder. Die Kin­der, die Zwillinge Jeanne und Simon, dachten, ihr Vater sei tot, von einem Bruder wussten sie nichts. Jeanne reist in den Libanon, um nach Spuren ihrer Familie zu suchen, Simon verschließt sich.

 

In diesen Handlungsstrang hineinmontiert sind Episoden aus dem Leben der Mutter, Nawal Marwan. Eine Mesalliance steht am Anfang: Sie, Christin in einem Dorf im Süden Libanons, liebt einen palästinensischen Flücht­ling. Eine erste Gewalttat geschieht, es folgen viele weitere. Nawal verstrickt sich in den Bürgerkrieg, wird Opfer und Urheberin von Gewalt. Villeneuve findet dafür immer wieder beeindruckende Bilder, etwa, wenn er den Überfall christlicher Milizen auf einen Bus voller Zivilisten filmt. Für den dramatischsten Moment wählt er eine Panoramatotale: Die Kamera ist so weit weg vom Geschehen, dass der in Flammen aufgehende Bus eher als geometrische Anordnung denn als Ergebnis einer Greueltat wahrgenommen wird. Doch gerade in der Distanz offenbart sich die Wucht des Geschehens. Dazu passt, dass sich »Die Frau, die singt« nach und nach dahin verschiebt, wo das Ungeheuer­liche seinen Ort hat: in den griechischen Mythos.

 

Das wiederum ist Fluch und Segen zugleich. Villeneuves Rückgriff auf den Mythos ist kühn und zwingend insofern, als die Ungeheuerlichkeiten in den Familienkonstellationen bei Aischylos oder Sophokles meist mit Kriegssituationen verschränkt waren. Zugleich lösen sich die vielen Rätsel, die der Film virtuos in verschiedenen Zeit- und Raumebenen aufwirft, am Ende zu glatt auf. Eine offene Gleichung erregte vielleicht mehr Furcht als die falsche, der zufolge eins plus eins eins ergibt.

 

Die Frau, die singt (Incendies), CAN 2010, R: Denis Villeneuve, D: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, 130 Min.