Körper von Heute

Tanz: Gastspiele aus Afrika und Indien – internationale Kompanien entwickeln neue zeitgenössische Tanzsprachen

»Ich möchte den traditionellen Tanz erneuern, das Klischee von Afrika, seiner Identifikation mit exotischen und folkloristischen Tänzen aufbrechen und versuchen, meine bzw. eine andere Sicht auf diesen traditionellen afrikanischen Tanz zu eröffnen. Ich versuche, mich intensiv mit den gegenwärtigen Gegebenheiten, mit dem Körper von heute zu beschäftigen.« Die Art und Weise, wie Choreografin Béatrice Kombé Gnapa aus der Elfenbeinküste ihr Verhältnis zum traditionellen Tanz schildert, kann stellvertretend stehen für eine neue Generation afrikanischer Choreografen und Kompanien. Ihre Themen und ihre Körpersprachen sind vor allem eins: zeitgenössisch. Traditionelle Tanzkulturen sind für sie nicht mehr und nicht weniger als eine Quelle der Inspiration.

Auswirkungen der Globalisierung

Die 30jährige Béatrice Kombé Gnapa gilt als eine Gallionsfigur der neuen, urban ausgerichteten afrikanischen Tanzszene. Die von ihr 1997 gegründete Kompanie Tchetche, die ausschließlich aus Frauen besteht, ist bekannt für ihren kraftvollen und dynamischen Tanzstil. »Man sieht muskulöse, kahl rasierte Amazonen, die sich mit spektakulärer Wucht darbieten«, schrieb die Journalistin Ayoko Mensah über eine Aufführung von »Sans Repères – Orientierungslos«, des jüngsten Stücks von Tchetche, das jetzt im Rahmen von Theater der Welt in deutscher Erstaufführung zu sehen sein wird. Die Choreografin selbst beschreibt »Sans Repères« als Stück über die verwirrenden Auswirkungen der Globalisierung, die schlagartig über Afrika hereingebrochen sei: »Wir, als Jugend, wissen nicht mehr, woran wir uns orientieren sollen, was unsere Vorbilder sind«, charakterisiert sie den gesellschaftlichen Wandel in Westafrika. »Was soll man machen? Wie soll man sich verhalten? Beschränkt sich die Globalisierung letztlich nur auf Europa, die westliche Welt, oder wird Afrika einbezogen? Und wenn ja, wie?«

Gefühl des Leidens

Einen bewusst politischen Ansatz vertritt auch eine aus Burkina Faso eingeladene Kompanie: Kongo Ba Teria, 1993 von Souleymane Badolo gegründet, präsentiert sich mit »Frères sans Stèles – Brüder ohne Grab«, einem Stück über die Sklaverei. Ausgangsüberlegung sei gewesen, dass es in Afrika keine Anerkennung für die Menschen gäbe, die den Kontinent zwangsweise verlassen mussten, erklärt Choreograf Badolo. Das Stück, das bei Theater der Welt seine europäische Erstaufführung erleben wird, hat in Burkina Faso starke Reaktionen hervorgerufen. »Jedes Mal kommen Zuschauer hinterher zu uns und beschreiben, dass vor allem das unvermittelt sich übertragende Gefühl des Leidens, um das es geht, sie sehr berührt«, erzählt Badolo. Auch Kongo Ba Teria zeichnet sich durch den ungeheuren physischen Einsatz der drei Tänzer aus und die Schonungslosigkeit, mit der sie Gewalt und Traumatisierung darstellen.
Beim renommierten afrikanischen Tanzfestival »Rencontres Chorégraphiques de l’Afrique et de l’Océan Indien« wurde Kongo Ba Teria im November vergangenen Jahres mit dem dritten Preis ausgezeichnet. Das 1995 gegründete Festival fand diesmal in Antananarivo in Madagaskar statt, 63 Kompanien aus 24 afrikanischen Ländern hatten sich beworben, 10 wurden eingeladen, und erstmals befand sich unter den Preisträgern eine madegassische Truppe: die Compagnie Rary.

Ein fremdes Stück

Auch ihr Gründer Ariry Andriamoatsiresy fühlt sich in erster Linie dem zeitgenössischen Tanz verpflichtet: »Ein traditioneller Tänzer bin ich nicht, war ich nie, und werde ich auch nie sein, aber meine Inspiration speist sich aus der Tradition.« Ziel der Kompanie, die aus fünf Tänzerinnen, zwei Tänzern und zwei Musikern besteht, sei es, »die Persönlichkeit der großen Insel auszudrücken, ohne dass wir die Einflüsse und Entwicklungen innerhalb der modernen Welt unterdrücken wollen«. Madagaskar charakterisiert, dass sich hier seit jeher verschiedene afrikanische und asiatische Einflüsse verbinden. In Ariry Andriamoatsiresys neuem Stück »Mpirahalahy Mianala – Gemeinsam« lassen sich neben afrikanischen Einflüssen auch Elemente der globalen Popkultur, Tai-Chi-Formen und indische Tanztraditionen ausmachen. »Ein fremdes Stück und ein wunderschönes zugleich, ein hochbegabter Choreograph«, schrieb die NZZ über »Gemeinsam«.

Radikaler Bruch mit Traditionen

Das Verhältnis von Tradition und Moderne verhandelt auch »Fragility« von Padmini Chettur – ein Beitrag aus Indien, wo die Auswirkungen der Globalisierung zu ähnlich ambivalenten Erfahrungen führen. Für die Tänzerin und Choreografin war der klassische indische Solotanz Bharatanatyam Ausgangspunkt ihrer Arbeit, inzwischen ist sie eine der wichtigsten Vertreterinnen des zeitgenössischen Tanzes in Indien, ihre jüngsten Stücke stellen einen radikalen Bruch mit der Tradition dar. Das klassische Training sei für sie eine Art körperliche Erinnerung, eine Erinnerung, die schwächer und schwächer werde. »Fragility«, ein Stück für vier Tänzerinnen, hinterfragt den Mythos des starken, kontrollierten und schönen Körpers beim Tanz. »Ich wollte wissen, was passiert, wenn Tänzerinnen zu einem Punkt getrieben werden, wo sie sich nicht mehr auf ihre Technik verlassen können, wenn sie eine Bewegung öfter wiederholen müssen, als sie eigentlich aushalten.« »Fragility« sei ein Experiment über Verletzlichkeit, Schwäche, die Grenzen des körperlich Erträglichen.
Was die reinen Frauenensembles von Padmini Chettur und Béatrice Kombé trotz der geografischen Distanz verbindet, ist die Tatsache, dass beide an einem Punkt weiter gehen als ihre männlichen Choreografenkollegen: Sie brechen nicht zuletzt radikal mit traditionellen Frauenrollen, herkömmlichen Vorstellungen von Tänzerinnen und dem jeweiligen überlieferten weiblichen Bewegungsrepertoire.