Pack mich an! HGichT auf der Bühne

Poppostdramatik

Das Impulse-Festival bestärkt den Trend zur Show im freien Theater

Hätte es noch eines Beweises für die Vehemenz der Entwicklung bedurft, dass das zeitgenössische Theater die Literatur hinter sich lässt, fände man ihn bei der zwanzigsten Ausgabe des »Impulse«-Festivals. Man muss dazu nicht gleich auf die Einladung der Electroclash-Musikerin Peaches verweisen. Sie tritt beim wichtigsten Festival des freien deutschsprachi­gen Theaters in der Sparte »special guests« auf mit ihrer neuen Bühnenshow »Peaches DJ Extravaganza«. Ein Bonbon, das zu einem Gutteil dem Versuch der künstlerischen Leiter Tom Stromberg und Matthias von Hartz geschuldet sein dürfte, ihrem Festival den Gout des Pop zu verleihen – und natürlich die Publikumszah­len, wie schon im Vorjahr erreicht, weiter nach oben zu schrauben. Für den Pop im Theater tun sie überhaupt viel. Und vielleicht ist das gar nicht so aufgesetzt. Auch im Wettbewerbsprogramm, das ei­ne Auswahljury festgelegt hat, tum­meln sich die Live-Art-Acts und Aufführungen mit Show­charakter.

 

Zehn Produktionen sind eingeladen. Keine davon inszeniert ein Stück im herkömmlichen Sinn. Insbesondere zeitgenössische Dra­matik scheint für die freie Szene nicht von Interesse zu sein. Tom Stromberg bestätigt den Eindruck: »Es scheint so zu sein, dass sich junge Theatermacher mit ­ihrem gesellschaftlichen Kontext oder mit ihrer politischen Situa­tion beschäftigen, indem sie selbst ein Projekt entwickeln, dazu forschen. Das Interesse an zeitgenössischen oder klassischen Texten ist, jedenfalls was die Breite angeht, nicht so stark.« In der Impulse-Auswahl sind es noch eher die Klassiker als Gegenwartsstü­cke, die herangezogen werden. Die auch auf dem Berliner Theatertreffen gefeierte Performance »Testament« von She She Pop, bei der es unter Einsatz der echten Väter der Gruppenmitglieder um den Generationenvertrag geht, bezieht sich konkret auf Shakespeares »König Lear«.

 

Die meisten Wettbewerbs-Produktionen haben gar keinen literarischen Bezug. An der Speerspitze dieser Front kämpft sicher die Hamburger Gruppe HGichT. Das Performance-Kollektiv agiert an der Schnittstelle von Punk und Theater, 2010 haben sie ihr erstes Album veröffentlicht, »Mein Hobby: Arschloch«. Beim Festival zeigen sie etwas, das den Titel »endzeit 2« trägt. In Beschreibungen der Shows der Hamburger kehren die Vokabeln »Ritual«, »Bühnenerlebnis«, »theatrale Per­formance«, »Punkkonzert« oder »Entgrenzung« und »Partizipation« wieder. Muss man das auf ei­nem Theaterfestival haben? Man muss – zumindest, wenn man an der ästhetischen Entwicklung, die das Theater momentan vollzieht (und die längst weit ins Stadttheater reicht), beteiligt sein will.

 

Neben Pop nennt Tom Strom­­­berg ein zweites Moment, das in den Wettbewerbsproduktionen her­­­­­­­­­­­vortritt: eine geografische Gegend. Die österreichische Frauengruppe Rabtaldirndln bringt in ih­­rem zünftig-unheimlichen Hei­mat­­­abend die Oststeiermark nach NRW und, ebenfalls aus Österreich, das Kollektiv God’s Entertainment (bereits 2007 zweimal ein­­geladen) thematisiert in seiner Performance »Trans-Europa-­Bol­­­ly­wood« mit Feierlaune, einigen Ortswechseln und Indien-Bezug die dortige Variante der Traum­fabrik.

 

Natürlich spielt bereits die Zu­sammensetzung der Auswahljury eine wichtige Rolle für das Programm und das Profil eines Festivals. Über sie haben die Leiter entschieden. Insofern können sie dem Festival natürlich doch ih­ren persönlichen Stempel aufdrücken. Mit den Voten von progressiv gestimmten Entschei­dungs­trägern wie dem erfahrenen Theatermacher Veit Sprenger, dem Dramaturgen Max Philip Aschenbrenner und dem bildenden Künstler Tino Sehgal hat das Festival jedenfalls zum wiederholten mal ein klares Bekenntnis zur Postdramatik abgegeben. Dahinter steht allerdings wieder eine Realität: Ausbildungsstätten wie die Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, die postdramatischen Ausrichtun­gen des Fa­ches in Frankfurt am Main oder Hildesheim, Lehrer wie Luc Perceval oder Heiner Goebbels, haben zur Erosion und Umwertung bestehender Ästhetiken beigetragen.