Wenn der Kibiz piepst

Am 1. August soll das novellierte Kinder­bildungsgesetz der rot-grünen Landesregierung in Kraft treten und die Erziehung in Kitas verbessern. Anja Albert hat die Änderungen unter die Lupe genommen

»Ich habe die Hoffnung auf mehr Qualität verloren. Denen geht es nur ums Geld«, sagt Hildegard Walkowiak mit Blick auf die Änderungen im Kinderbildungsgesetz (Kibiz), die die rot-grüne Landesregierung zum 1. August vornehmen will. Die Frau mit der tiefen, warmen Stimme sitzt ruhig da, aber ihr Gesicht wirkt angespannt, die Hände presst sie fest auf die Tischkante. »Die Politik nutzt die Kraft, die uns die Kinder schenken, eiskalt aus. Und nehmen hin, dass wir bis an unsere Grenzen gehen«, sagt die 55-jährige Erzieherin, die in der katholischen Kita St. Rochus in Bickendorf arbeitet.

Eigentlich kann Walkowiak so schnell nichts umhauen, sie ist seit 37 Jahren Erzieherin und liebt ihren Job – trotz der mittlerweile miserablen Arbeitsbedingungen. Gerade hat sie zwei Wochen lang ihre zwanzig »Marienkäfer«, so heißt die Kita-Gruppe, alleine betreut: Ihre Kollegin war im Urlaub, die Aushilfskraft, die manchmal stundenweise einspringt, musste woanders anpacken. Gegen Ende unterstützte sie eine 17-jährige Vorpraktikantin, die bald ihr Fachabitur macht. In der Marienkäfergruppe sind zwanzig Kinder, sechs von ihnen sind unter drei Jahren, das heißt: Wickeln, Füttern, Herumtragen – bei planmäßig zwei festen Erziehern, so sieht der frühkindliche Bildungsalltag in Nordrhein-Westfalen aus, und so steht es auch im Gesetz.

Das Kita-System in NRW ist spätestens seit der Einführung des Kibiz so fragil, dass es nicht mal Unwägbarkeiten bedarf, damit Chaos oder gar Schließungen drohen. Als die schwarz-gelbe Landesregierung am 1. August 2008 das Kinderbildungsgesetz verabschiedete, versprach sie mehr Bildung. »Das war eine Schweinerei. Das Kibiz ist von Anfang an nichts anderes als ein Haushaltskonsolidierungsgesetz, das die Rahmenbedingungen in den Kitas für Bildung und Erziehung massiv verschlechterte«, sagt der Sozialpädagoge Gerhard Stranz. »Damit rangiert NRW im bundesweiten Vergleich auf dem letzten Platz in Sachen Kindeswohl.« Der 62-Jährige mag aufgrund seiner deutlichen Worte bei einigen vielleicht unbeliebt sein, seine Kompetenz als Kibiz-Experte schlechthin zweifelt aber niemand an. Wenn Stranz von Kibiz spricht, klingt das komische Wort fast wie ein Fluch.

Individuelle Förderung nahezu unmöglich

Und ein solcher scheint das Gesetz in der Praxis auch zu sein: größere Gruppen bei weniger Erziehern, kommunenabhängige und damit sozial ungerechte Elternbeiträge, überbordende Bürokratie und fehlende Planungssicherheit für die Einrichtungen, eine schwierigere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weil die Eltern sich ein Jahr im Voraus auf die Betreuungszeit festlegen müssen. Und vor allem: ein Finanzierungssystem, das weiterhin auf Kopfpauschalen pro Kind basiert, zu wenig Personal vorsieht und damit die individuelle Förderung nahezu unmöglich macht.

Das Kibiz wurde in den drei Jahren seiner Gültigkeit wohl zum umstrittensten Gesetz von Schwarz-Gelb. Kommunen, Wohlfahrtsverbände, Eltern, Pädagogen und auch die damalige Opposition aus SPD und Grünen schlossen sich im »Kita-Kampf« zusammen. »Kibiz ist Mumpitz« war der Schlachtruf, den ein SPD-Politiker prägte. »Das werden wir schnellstmöglich und umfassend korrigieren«, versprach Familienministerin Ute Schäfer (SPD) nach der Landtagswahl, der Koalitionsvertrag kündigte schließlich eine »Generalrevision« an.

Jetzt liegt der Gesetzesentwurf, das sogenannte 1. Kibiz-Änderungsgesetz (siehe Kas-ten) vor, am 22. oder spätestens am 23. Juli soll der Landtag die Novelle verabschieden, nur wenige Tage später soll sie wirksam werden. Die Landesregierung möchte in einem »Zwei-Stufen-Plan« vorgehen und mit der Novelle erste »Notfallmaßnahmen« anpacken. Eine grundlegende Reform erfolge in der zweiten Stufe, so Ute Schäfer – ein verbindlicher Zeitplan existiert jedoch nicht. Das 1. Kibiz-Änderungsgesetz sieht im Wesentlichen vor, dass die Eltern von den Gebühren des letzten Kita-Jahres befreit werden und Gruppen mit unter Dreijährigen erstmals befristet auf ein Jahr zusätzliche Mittel für mehr Personal bekommen sollen (U3-Pauschale). 100 Millionen Euro hat das Land dafür veranschlagt: Damit sollen in jeder Gruppe 18 sogenannte Ergänzungskraftstunden  pro Woche finanziert werden.

Empörung bei Jugendämtern, Einrichtungen und Experten


Klingt gut, die Kalkulation stieß aber auf Empörung bei Jugendämtern, Einrichtungen und Experten. Bei einer Anhörung Ende Juni im Düsseldorfer Landtag führten die geladenen Sachverständigen Rechenbeispiele aus der Praxis vor – mit ernüchterndem Ergebnis. Im Schnitt bringe die U3-Pauschale den Gruppen acht zusätzliche Stunden, pro Woche. »Die nun verbleibende Regelung kann nur zu marginalen Verbesserungen führen«, erklärt auch Kölns Bildungsdezernentin Agnes Klein (SPD) bei der Anhörung. »Die Pauschalen im Kibiz wurden von der alten Landesregierung bewusst falsch berechnet, um Geld zu sparen. Und in der Revision werden sie auch für die neue U3-Pauschale beibehalten«, erklärt Sozialpädagoge Stranz die Differenz von zehn Stunden.

So dienten bei der Kibiz-Einführung 2008 Personalkosten aus dem Jahr 2005 als Berechnungsgrundlage – Tariferhöhungen und Inflation wurden damals und auch heute nicht eingerechnet. Mit dem Ergebnis, dass die Kopfpauschalen derzeit im Schnitt um 14 Prozent zu gering sind und die tatsächlichen Löhne, sofern sie tariflich sind, nicht decken. In der Praxis bedeutet das weniger Personal und überlastete Erzieher. »Die Pauschalen und damit die Qualität in den Kitas hätten jetzt angepasst werden müssen. Das hätte die erste Maßnahme der Landesregierung sein müssen, um wirklich etwas zu verbessern«, fordert Stranz.

Zwanzig Kinder, zwei Erzieher und acht Zusatzstunden in der Realität – aus wissenschaftlicher Sicht ist eine andere Betreuungsrelation notwendig. Erziehungswissenschaftlerin Susanne Viernickel hat in einer Studie aus dem Jahr 2009 Standards ermittelt: eine Fachkraft auf drei bis maximal vier unter Dreijährige. Ein Personalschlüssel, der über diesem Schwellenwert liege, gefährde das Kindeswohl. Vor Kibiz war man in NRW gar nicht so weit von dieser Empfehlung entfernt: In der kleinen altersgemischten Gruppe kamen 15 Kinder auf mindestens drei Erzieher.

Experten fordern Befreiung für bildungsferne Familien


Neben der U3-Pauschale stößt vor allem die Befreiung der Eltern von den Gebühren des letzten Kita-Jahres unter Sachverständigen auf Kritik, weil sie die Bildungschancen nicht verbessere. »Das entlastet die Eltern, damit wird aber kein Anreiz gegeben, um die Kinder möglichst früh in der Kita anzumelden und ihnen damit einen besseren Start ins Leben zu geben«, sagt Rainer Strätz vom Sozialpädagogischen Institut der FH Köln. Er befürwortet gerade mit Blick auf Kinder aus bildungsferneren Familien die Befreiung des ersten Kita-Jahres. Das forderten auch die Grünen, während sich die SPD von Anfang an für das letzte Jahr stark machte. »Ein letztes beitragsfreies Jahr ist reine Mittelstandspolitik, denn Sozialhilfeempfänger sind ohnehin schon freigestellt«, sagt Stranz. 150 Millionen Euro will das Land ausgeben, ein medienwirksames Geschenk an die Eltern. Mit Qualität hat das nichts zu tun.

»Natürlich wollen wir alle, dass die Kita beitragsfrei wird wie auch Schule und Uni. Und natürlich würdigen wir auch, dass die Landesregierung im Vergleich zu ihren Vorgängern trotz klammer Kassen Geld in die Hand nimmt. Wenn aber nur dieses Budget zur Verfügung steht, geht Qualität vor. Und das sehen unsere Eltern auch so«, betont Monika Krings, stellvertretende Leiterin der Kita St. Rochus in Bickendorf. Denn Beitragsfreiheit stelle keine Notfallmaßnahme dar.

CDU und FDP wollen Änderungsgesetz ablehnen


CDU und FDP haben schon angekündigt, dass sie das Änderungsgesetz ablehnen. Und Carolin Butterwegge, familienpolitische Sprecherin der Linken im NRW-Landtag, auf deren -Stimme Rot-Grün angewiesen ist, erklärt: »Die Korrekturen sind in keiner Weise ausreichend.« Die Umsetzung der zweiten Stufe scheint ebenfalls problematisch. »Als Abgeordnete der Grünen verspreche ich dafür zu kämpfen, von den Kopfpauschalen wegzukommen und ein neues Finanzierungssystem einzuführen«, sagt Andrea Asch, familienpolitische Sprecherin der Grünen. Dazu braucht sie die SPD – die aber vage bleibt.

Hildegard Walkowiak wird die Abstimmung Ende Juli im Landtag genau verfolgen. Sie bastelt gerade mit ihren »Marien-käfern«, die jetzt in die Schule kommen, die Abschlussmappen – und lächelt: Die ersten krakeligen Buchstaben, das erste selbstgemalte Bild und das Foto mit den Laufradversuchen. Bei all diesen Etappen war die Erzieherin dabei. »Kontinuität ist sehr wichtig für die Kinder. Die Aushilfen, die für ein Jahr einspringen sollen, bekommen all das nicht mit«, bedauert -Walkowiak. Derzeit beschäftigt sie aber in erster Linie eine praktische Frage: »Wer möchte überhaupt einen Arbeitsvertrag über acht Stunden die Woche?«