Schmetterlinge, Aprikosenbäume

Inger Christensen kommt diesen Monat zum Lyrikfestival nach Köln. Hendrick Jackson, der neue Brinkmann-Stipendiat der Stadt, über seine Begegnung mit der dänischen Lyrikerin und ihren Texten

Das erste Mal hörte ich Inger Christensen vor etlichen Jahren auf einem Lyrikabend mit zahlreichen Autoren im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße. Der Raum war voll. Unerwartet viele Besucher drängten sich um die Stühle. Sie, deren Namen ich noch nicht kannte, sollte als erste lesen. Die Einführung sprach von der Beziehung der Naturwissenschaft zur Poesie, von der Beschäftigung der Autorin mit Novalis. Ich war gespannt, ohne mir genaues vorstellen zu können. Inger Christensen trat vor das Pult und strahlte etwas fast Häusliches, auf jeden Fall etwas Unexzentrisches, Unspektakuläres aus. Im Dänischen, aber auch im Deutschen, das sie beherrscht, entfaltet der melancholisch-schwebende Sing-Sang der Christensen eine eigenartige Schönheit. So schaffte sie es, wie auch Jahre später bei einer Lesung auf dem Potsdamer Platz selbst vor Hunderten von Leuten, alle Aufmerksamkeit auf die Sprache, die Gedichte zu ziehen. Immer wieder konnte ich einzelne Zeilen verstehen: »sommerfugle« – das mussten Schmetterlinge sein, »stiger op« – aufsteigen, »planeten«, »middagshede luft«... Nicht lange nachdem sie zu Ende gelesen hatte gingen wir, ohne die meisten anderen Autoren, deretwegen wir gekommen waren, gehört zu haben. Die schwermütig-schöne Stimmung ihrer Gedichte, die besondere Übereinstimmung zwischen Wort, Laut und Bild klang nach, wirkte, wollte nicht zerstreut werden.
Inger Christensen, 1935 geboren, lebt in Kopenhagen. Der Großteil ihrer Werke stammt aus den 60er und 70er Jahren. Erst in den 90er Jahren begann ihre weltweite Anerkennung. Spät, sicherlich, aber vielleicht mussten die Menschen warten, bis diese Dichtung auf sie zukam. Christensen ist eine Lyrikerin, die ihren Gedichten oft eine stark reglementierte Form auferlegt. Das lief den literarischen Tendenzen ihrer Zeit zuwider. Inzwischen ist ihr Rang unumstritten.

Grübelnde Beobachtungen

Die Lyrikerin versteht es, sich zurückzunehmen, um dem Vorhandenen und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Sprache Raum zu geben. Dabei ist sie sich der Ambivalenz dieses Bemühens bewusst: »Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selber.« Trotzdem schwingt in allen Gedichten ein subjektiv-lyrischer Ton mit – oder, mit den von ihr zitierten Worten Novalis’ gesagt: »Das Äußere ist ein in den Geheimniszustand erhobnes Inneres«. »Der Geheimniszustand« ist auch der Titel eines Essaybandes von Inger Christensen.
Die Dichterin beseelt ihre Formen mit Imagination und der erdverbundenen, grübelnden Beobachtung des Melancholikers. So wie in ihrem berühmtesten Gedicht, dem Ende der siebziger Jahre entstandenen »alfabet«. Es rekurriert in der Komposition seiner vierzehn Abschnitte auf die so genannte Fibonacci-Folge, eine nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci benannte Zahlenreihe, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet (also: 1, 2, 3, 5, 8, 13, etc). Das Gedicht geht von Buchstabe zu Buchstabe (ABC...), benennt (entsprechend der Zahlenfolge immer mehr) Dinge, die es gibt. Und schwillt dabei an zu einem gewaltigen Trauerpoem, in dem der Zweifel nistet, ob bzw. wie es die Dinge außerhalb der Sprache überhaupt geben kann. Ein Nichtsein, eine Illusion lauert wie das Schattenbild eines Totenkopfs hinter jedem »es gibt«. Nicht zuletzt sind die Dinge bedroht durch die Existenz von Vernichtungsenergien (wie der Atombombe).

Entstehen und Vergehen

Das Gedicht formuliert wie kein anderes die Angst und Ohnmacht der Zeit und ist zugleich ein Schöpfungsgedicht, das uns zu der Frage nach dem Anfang der Welt, in dem das Wort war, führt. Der erste Satz aus »alfabet« lautet: »die aprikosenbäume gibt es, die aprikosenbäume gibt es« Dieser Anfang hält, wie der Lyriker Michael Donhauser schreibt, die Existenz der Aprikosenbäume »in Fluß, indem er wiederholt, ist so wiederholend als Wiederholung der Fluß: doch er beharrt doch auch auf den Aprikosenbäumen, die es gibt, als vergängliche gibt, von Anfang an, von diesem Anfang an, der ihre Vergänglichkeit mitsagt, denn im zweiten Satz ist der erste als vergangener wiederholt oder erzählt.« Es fällt fast schwer, aus dem Gedicht »alfabet« zu zitieren. Man möchte diese Aufzählung, Erzählung (im Dänischen ist die Nähe von Erzählung zu Zahl noch stärker: »tal« (Zahl) und »tale«), dieses Auferstehen der Welt vor dem inneren Auge, das bei aller Erschütterung, die es auslöst, lakonisch bleibt und Bilder wie »rastlose hoffnungen / wie lichtstürme quer / durch nebelhafte erinnerung« treiben lässt, – dieses Poem der Erde an keiner Stelle unterbrechen. Obwohl man selbst oft einfach in es hinein liest, irgendwo dann doch abbricht, mit jener Plötzlichkeit, die auch in die Mitte unseres Lebens schneidet: »wie man zu sterben pflegt / eines tages bei gewöhnlichem / wetter, ob man nun / weiß, daß man sterben muß oder / nichts weiß, eines tages / wenn man vielleicht wie üblich / vergessen hat daß man sterben muß / eines leicht stürmischen tages im / november vielleicht, während / man in seine küche geht und gerade noch spüren / kann wie schön die kartoffeln / nach erde / riechen (...)«
An dem ihr gewidmeten Abend im Literaturhaus Köln wird sie aus dem (in Deutschland) noch unveröffentlichten Werk »death« lesen. So wird nicht nur der, der Inger Christensen noch nicht kennt, eine einzigartige Entdeckung machen können.
Lyrikfestival: Das vom Kölner Literaturhaus organisierte dreitägige Lyrikfestival eröffnet mit einer Inger Christensen-Werkschau am 4.7., 20 Uhr, Orangerie, Volksgartenstr. 25. Zu den beiden folgenden Abenden s. S. 81.
Hendrik Jackson: Jahrgang 1971, lebt in Köln, Berlin, Petersburg. Studium der Theaterwissenschaft, Slawistik, Philosophie. Zeitschriftenbeiträge u.a. für edit, intendenzen etc. Tonarbeiten und Drehbuch bei Filmen der Kunsthochschule für Medien Köln. Sein Gedichtband »einflüsterungen von seitlich« erschien 2001 im Morpheo Verlag, Berlin. Im Herbst 2002 erscheint im Verlag edition per procura ein Band mit Poemen von Marina Zwetajewa, im Frühjahr 2003 dann 95 Thesen über »brausende bulgen«.
Lyrikfestival
4.7.
Inger Christensen Orangerie im Volksgarten, 20 Uhr. Siehe Tipp.
5.7.
»Der zweistimmige Gesang der Möwen« Orangerie im Volksgarten, 20 Uhr. Gedichte über »Natur, Technik und Abweichung«. Mit Elke Erb (Berlin), Barbara Köhler (Duisburg), Ilma Rakusa (Zürich) und Silke Scheuermann (Frankfurt).
6.7.
»Verse und Fische mit krummen Rücken« Orangerie im Volksgarten, 20 Uhr. Die WM ist gerade vorbei, hier geht es weiter – mit Lyrik aus Korea, China und Japan. Es lesen Kim Hye Soon (Korea), Xu Pei (Köln/ China) und Yodo Tawada (Hamburg/Japan).