Neuanfang: Daniel Mill entdeckt sein eigenes Label wieder<br>Foto: Joe Dilworth

Dreißig Jahre Aufbruch

Daniel Miller hat das legendäre Label Mute wieder belebt.

An der Herz-Kreislauf-Maschine: S.C.U.M. und Apparat

S.C.U.M sind fasziniert vom Untergang. »Manche unserer Songs klingen wie der Ursprung und das Ende der Zeit zugleich«, erklärt der 19-jährige Samuel Kilcoyne, »wir lieben diesen Gegensatz zwischen Schönheit und totaler Zerstörung.« Kilcoyne machte bisher vor allem als Initiator der englischen Under-Age-Szene von sich reden und ist nun Keyboarder einer jungen Londoner Band. Diese hat die eigene Abschaffung bereits in ihren Namen eingeschrieben: S.C.U.M steht für »Society for cutting up men«, den Titel des radikalfeministischen Manifests von Valerie Solanas, das bereits 1968 den Untergang aller Träger des verkümmerten Y-Chromosoms forderte. Das auf Mute Records erscheinende Debüt der Band wirkt wie ein Update des Shoegaze-Sounds der frühen 90er Jahre, aber ihr Klang wird derzeit als großer Aufbruch rezipiert. Mit dieser Widersprüchlichkeit passen S.C.U.M bestens in eine Zeit, in der bis auf die Margen der Spekulationsgewinnler alles den Bach runter geht. Für den Alltagsexorzismus werden düstere, quasi-sakrale Räume bevorzugt, ihr Album »Again Into Eyes« klingt nach einem implosiven Hedonismus der Kaputten und Ausgezehrten.

 

Es wird kolportiert, Mute-Gründer Daniel Miller habe es mit der Angst oder zumindest wohligen Gänsehautschauern zu tun bekommen, als er die Band zum ersten Mal live erlebte. Der Kontakt zwischen S.C.U.M und dem Betreiber des legendären Londoner Labels, auf dem Acts wie Depeche Mode oder Nick Cave veröffentlichten, wurde schon vor einiger Zeit hergestellt. Es war das Rohe, Unfertige der ersten Konzerte, das Daniel Miller begeisterte: »S.C.U.M habe ich sehr früh gesehen. Sie waren zwar schon eine Band, hatten aber noch nicht wirklich Songs geschrieben, sondern spielten eine Form von purem Krach. Ich habe in den letzten dreißig Jahren viele Bands gehört, die so etwas machen, es gibt verschiedene Qualitäten von purem Krach. Aber das fand ich fantastisch. Es war ein sehr formloses Etwas, aber mit Unmengen an Potenzial.«

 

Nun dürfen S.C.U.M behaupten, eines der ersten Signings von Mute zu sein – was paradoxerweise stimmt, obwohl der heute 60-jährige Miller seine erste Platte 1978 veröffentlichte. Das Wort Aufbruch könnte auch er sich als T-Shirt-Aufdruck über den Bauch spannen: Er hat Mute Ende 2010 neu gegründet. Nach einer 2002 vollzogenen Integration in den Major EMI ist Miller mit seinem so einflussreichen wie langlebigen Label erst seit ein paar Monaten wieder independent. Der Weg zurück in die Unabhängigkeit war steinig, aber Miller hatte nie gezweifelt, dass er ans gewünschte Ziel führen würde: »Es war eine frustrierende Phase. Aber ich wusste, dass wir da durch mussten, um ans andere Ende zu gelangen.«

 

Die eigene Firma neu zu gründen, kann mit kuriosen Begleiterscheinungen einhergehen. So muss Miller den Namen der Marke, die er selbst erfunden hat, heute von EMI lizenzieren, ebenso den umfangreichen Katalog, der ihm seit der Fusion nicht mehr gehört. Vertriebsdeals im britischen Heimatland und in den USA binden auch den Neo-Indie Mute weiter an das seit Jahren schwerfällig havarierende Schiff EMI, das von einem Investoren-Hafen zum nächsten geschleppt wird. Der aktuelle EMI-Besitzer, die Citigroup, sucht gerade einen neuen Käufer.

 

Millers wiedererlangte Freiheit sorgt aber auch für andere erstaunliche Phänomene: Innerhalb kürzester Zeit wurden auf Mute so viele neue Acts unter Vetrag genommen, wie bis dahin in über dreißig Jahren nicht. Allerdings schiebt Miller die neue Hyperaktivität vor allem auf die Rahmenbedingungen. Er habe eben wie ein Trüffelschwein immer weiter gewühlt, auch wenn er sich am Ende der EMI-Phase rund zwei Jahre lang wie gelähmt fühlte und keine neuen Künstler vertraglich binden wollte. »EMI wollte Mute, weil sie sich etwas anderes innerhalb ihrer Firma wünschten, eine Gruppe von Personen, die Dinge anders anging als der Rest des EMI-Mainstreams«, erklärt Miller im Rückblick. »Das fühlte sich gut an. Aber mit der Zeit wurde verlangt, dass wir mehr und mehr wie jede andere beliebige EMI-Marke sein sollten. Das hätte Mute nie sein können. Daher ist es jetzt sehr befreiend, aufregend, nervenaufreibend. Wir bringen mehr Platten raus, als ich geplant hatte. Aber das ist okay. Es sind großartige Platten.«

 

Neben »Again Into Eyes« von S.C.U.M ist eine weitere »The Devil’s Walk« von Apparat. Der Berliner Sascha Ring, bisher als einsamer Frickelelektroniker mit Hang zum Schwärmerischen bekannt, baut sein Projekt zu einer Band aus. Konzerte werden in vierköpfiger Besetzung absolviert, Ring versteht sich auf der Bühne »nur« als Sänger und Gitarrist der Gruppe. Und er sieht es als Herausforderung an, zu vermitteln, dass Apparat längst nicht mehr das ist, was viele in ihrer Bequemlichkeit hineinlesen: Tanzmusik aus der deutschen Hauptstadt. Über diese Zuschreibung regt er sich auf: »Das ist dieser Berlin-Techno-Stempel, den ich drauf habe. Ich mache alles, um den loszuwerden. Musikalisch ist der Prozess ganz natürlich, aber irgendwie scheinen die Leute das trotzdem nicht zu verstehen. Meine Konsequenz war, das Album nicht auf einem Berliner Label zu veröffentlichen und auf neutralem Grund noch mal zu beginnen. Ich denke, dass Mute dafür eine sehr gute Plattform darstellt.«

 

Daniel Miller sah das ähnlich, als er vor einigen Monaten eine erste Version von »The Devil’s Walk« zu hören bekam. Er war sofort fasziniert. Als Label-Macher hält er sich an eine schlichte Erkenntnis, die sich seit den späten 70ern nicht verändert hat: »Du bringst die Musik raus, die du liebst und arbeitest dafür, so hart du kannst. Da ist kein Geheimis dahinter. Es geht einfach nur um gute Bands und gute Platten.«