Mit geballter Faust

Eine Box mit Arbeiter- und Freiheitsliedern der letzten 150 Jahre dokumentiert kreuzbrave Gesangsquartette, schmetternde ­Arbeiterchöre – und wenig Humor

Vom »Volk« ist viel die Rede und vom »Vaterland«, von vergosse­nem »Arbeiterblut« und von fließenden Tränen, so dass man meinen könnte, hier seien deutschnationale Kitschpoeten am Werke gewesen, mit denen wir es in der deutschen Musiktradition bis heute zu tun haben. Tatsächlich aber erklingen hier die Gesänge und Fanfaren der Revolution. Frei von Pathos und Kitsch jedoch sind auch diese ganz und gar nicht: »Wut« reimt sich auf »Blut« und »roter Gru-uß« auf »Spartaku-us«, und der »Kampf« unter dem »Banner der Freiheit« gegen den gemeinsamen »Feind« eint die Arbeiterschaft.

 

Der Berliner Musikhistoriker Jürgen Schebera hat sich die Mühe gemacht, Hunderte von seltenen Aufnahmen und Tondokumenten zusammenzustellen. Die meisten von ihnen haben jahrzehntelang in vergessenen und vermutlich nur von Wissenschaftlern frequentierten Archiven gelagert, darunter auch zahlreiche Schellackplatten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Herausgekommen sind zwölf CDs mit Arbeiter- und Freiheitsliedern, die in der Zeit zwischen 1844 und 1990 entstanden sind. Kampfgesänge, in denen das Leid und Elend des Arbeiterstandes beklagt und dazu aufgerufen wird, den Herren Fabrikanten, »Geldsäcken« und Ausbeutern die Macht zu entreißen.

 

Von Liedern über die gescheiterte Revolution von 1848 und Klassikern aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung über die Kompositionen von Brecht und Eisler bis hin zu den Agitprop-Folksongs linker und frie­densbewegter Liedermacher der 70er Jahre ist alles Liedgut versammelt, das für die linke Identität ebenso unverzichtbar ist wie für die Beschallung von Ostermärschen. Spätestens seit der Nachkriegszeit diente, wie Jörg Sundermeier in der taz feststellt, das Arbeiterkampflied nämlich vor allem »vielen Linken zur Selbstversicherung der eigenen politischen Identität«.     

 

Wer die Nerven dazu hat – und die benötigt man –, kann sich einen kompletten Tag lang durch dieses Material hören. Bald entdeckt man textliche Eigenheiten der Kultur der deutschen Arbeiterbewegung, etwa die bedenkenlose Glorifizierung der (körperlichen) Arbeit als Wert an sich, das aus Neid und protestantischer Moral erwachsende Ressentiment gegen Luxus und Hedonismus oder die geradezu religiöse Inbrunst, mit der man sich seinem Ideal oder der Partei verschreibt.

 

Doch bei allem, was zumindest einige dieser Lieder so unangenehm und schwer erträglich macht, sollte eines nicht unerwähnt bleiben: Viele von ihnen wurden einst als gefährliche Hetze, als staatsfeindlich eingestuft. Jahrzehntelang wurde das Singen und die Verbreitung solchen Liedguts bestraft und polizeilich verfolgt – erst im 19. Jahrhundert, später in der Zeit des Nationalsozialismus.    

 

Untersucht man jedoch den Großteil dieser Sammlung im Hinblick auf das musikalische Material, d.h. betrachtet man sie unter rein formalen Aspekten und lässt die Geste des Widerständischen und Anklagenden, die viele der Texte kennzeichnet, außer acht, fällt unweigerlich das Strukturkonservative des kämpferischen Arbeiterliedes auf: Wir hören wahlweise nölende oder trällernde sowie sich selbst und ihre politische Mission überaus wichtig nehmende Barden, die an ihren Klampfen herumzupfen, kreuzbrave Gesangsquartette und Lieder schmetternde Arbeiterchöre, gescheitelte Herren mit oder ohne Parteibuch, die mit schlechten Versen, zackigem Marsch­getrommel und penetran­tem Schalmeiengetröte die Welt aus den Angeln heben wollen.

 

Zweifelsohne wird hier engagiert und kämpferisch für eine bessere Welt ohne Knechtschaft und Ausbeutung gestritten, doch musikalisch irritierend oder gar verstörend ist das selten gewesen. Versuche, den revolutionären Gehalt des Liedguts mit neuartigen und den Hörer herausfordernden musikalischen Formen zu verknüpfen, sind in dieser Tradition zumeist ausgeblieben. Was zweifellos die Ursache dafür ist, dass nicht wenig von dem vorliegenden Material, so interessant, historisch bedeutsam oder skurril es auch sein mag, heute wenig zeitgemäß klingt. Dass eine Musik des Protests, die beabsichtigt, als solche wahrgenommen oder verstanden zu werden, immer auch um eine Erschütterung und Erneuerung der musikalischen Formen bemüht sein muss, das hat man in den politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung (bzw. dem, was davon übrig geblieben ist) offenbar nie verstanden.

 

Am Ende haben wir es auf diesen CDs häufig mit linksromantischen Volksweisen zu tun, in denen ein zuweilen schwer goutierbarer revolutionärer Optimismus, die geballte Faust und das »Vorwärts«-Geschrei dominieren und in denen man in der Regel nicht das geringste Spurenelement von Humor findet. Schon bei der Entstehung in ihrer jeweiligen Zeit waren viele der Lieder auf Volkstümlichkeit bedacht, jeder und jede sollte sie verstehen, wiedererkennen und mitsingen können. Das ist nicht weiter schlimm. Das ist aber auch der Haken an der Sache.

 

Tonträger: »Dass nichts bleibt, wie es war«. 150 Jahre Arbeiter- und Freiheits­lieder. 4 Boxen mit je 3 CDs. Inkl. illustrierter Booklets mit Erläuterungen und Texten sämtlicher Lieder. (Bear Family Records).