Phantastische Pixel

Was zieht einen 35-jährigen Künstler, der von der Computerrevolution geprägt wurde, ins Wallraf-Richartz-Museum? Ein Geburtstagsbesuch zum 150-Jährigen mit Tim Berresheim

Tim Berresheim ist zweifellos ein Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts. Einer, der mit Punkmusik sozialisiert wurde, bevor er in Braunschweig und Düsseldorf Kunst studierte, den man eher im Museum Ludwig als bei den alten Meistern im »Wallraf« anzutreffen glaubt. Oder ganz woanders, wo sich niemand über die Tatoos wundert, die inzwischen von den Armen hoch bis unters Kinn geklettert sind. Doch solche Überlegungen reproduzieren schon wieder jene Klischees und Zuschreibungen, die Berresheim so egal sind, dass er sie nicht mal durch Provokation würdigt. Er sitzt, pünktlich und gut vorbereitet, im Museumscafé.

 

Vor fünf Jahren hatte er mal in einem Nebensatz erwähnt, er gehe zum Kunst-Gucken gern alleine ins Wallraf-Richartz-Museum – da hingen so tolle Bilder! Damals ließ sich das nicht vertiefen, jetzt sind wir wegen der Bilder hier. Genauer: der Mittelalterabteilung. Berresheim führt gezielt in den ersten Stock, wo jene Gemälde und drastischen Altarbilder hängen, die entstanden, bevor ein »Kunst«-Begriff im heutigen Sinne überhaupt existierte. Kreuzigungsszenen, Engel, Dämonen, der Hiob-Altar, der die Wette zwischen Gott und dem Teufel darstellt. Doch was Fachleute hier alles mit ikonografischem Wissen heraus- bzw. hineinlesen können, interessiert ihn nicht. Ihm gehe es allein um das Bild als Bild, das Seherlebnis. Auf seinem Notizzettel steht ganz oben das große Tryptichon des Meisters von Delft, datiert um 1500 – an dem könne er das prima erklären.

 

»In diesem Bild erkennt man, dass es nur ums Sehens geht: Alles ist gepingelt worden, also mit einem ganz feinen Einhaarpinsel mit allergrößter Mühe ausgeführt. Du hast die höchste Detailstufe und Du hast unendliche Tiefenschärfe, selbst was ganz hinten im Bild ist, ist gepingelt. Das ist sozusagen die höchste Stufe, die damals an Sehen herzustellen war. Dann kam in der Frührenaissance Da Vinci und hat gesagt, wir unterwerfen dieses Bildwissen der Optik des Menschen: Man arbeitete mit perspektivischer Verkürzung, im Hintergrund wurde unscharf gemalt – unser Hirn macht daraus ein Bild. In Deutschland hat Dürer 1525 die Zentralperspektive in einem Buch festgehalten. Um diesen Zeitpunkt herum also ist das, was an Bildwissen akkumuliert worden war, durch die Projektion und das Deuten abgelöst worden. Genau das finde ich so interessant am Wallraf-Richartz-Museum, dass man hier quasi detektivisch selber herausfinden kann, was einem mehr liegt – bin ich ein Fan des Deutens oder bin ich ein Fan des Sehens!«

 

Seit 500 Jahren, bilanziert Berresheim, bestimme die Vorherrschaft des Deutens die Kunstgeschichte, die Rezeption und die Schulbildung. Erklärungsmodelle, Bedeutung, Referenzen – dieser ganze »Vereinbarungswahnsinn«, wie er es nennt, sei natürlich wichtig, um die Moderne zu verstehen oder die Werke im Museum Ludwig, aber für das Hiob-Tryptichon, vor dem wir nun stehen, eben nicht. Genau das mache das Mittelalter heute wieder interessant.

 

»Man steht vor diesem Bild und akzeptiert es sofort als Bild. Die wussten damals wirklich schon alles über Farbe und Bildaufbau und haben mit diesem Wissen glaubwürdige Szenerien geschaffen. Wenn man sich da richtig reingroovt, in Erklärungen, dann wird es ja schleierhaft: Diese seltsamen Proportionen hier, die total unklare Perspektive! Ich kaufe das dem Bild ab. Die Anwesenheit eines seltenen Artefakts – die ist so überwältigend, dass alles andere nebensächlich wird.

 

Was bewirkt sie denn beim Betrach­ter?

 

Es affiziert mich direkt, ohne dass ich noch Leistung erbringen muss. Das Bild liefert schon alles. Ich glaube, dass genau dieser Alarmzustand ein Bedarf des 21. Jahrhunderts ist: Du stehst vor etwas und bist in Hab-Acht-Stellung und denkst what the fuck ...! Das ist ja so ein Alarm, der leer ist, nicht negativ oder positiv. Das kann man hier bei vielen Bildern erleben. Ich glaube, dass dieses What The Fuck immer schon interessant war: es anzubieten, es glaubhaft anzubieten und so einen Alarmzustand herzustellen.«

 

Das ist auch seine eigene Motivation: Bilder nach alten Tugenden zu machen, aber heutige, nie gesehene. Als Ende der 90er, zu Beginn der digitalen Revolution, viele Kollegen plötzlich wieder zum Pinsel griffen, entschied Berresheim sich für digitale Bildherstellung. Der Computer bestimme heute die Bildwelten und Erzählweisen in Werbung, Film, Fernsehen, die Bildende Kunst hinke da seltsam hinterher. 500 Jahre zurück hingegen finde man Werke, die gerade ihr extremer Informationsreichtum ausmacht.

 

»Ich glaube, wenn man damals andere technische Möglichkeiten gehabt hätte, dann hätte man da auch weiter­gemacht. Wir könnten jetzt, im Jahr 2011, so meine Hypothese, Bilder liefern, die ungesehen sind und kein Erklärungsmodell mitliefern und man würde es akzeptieren. Wenn jemand heute Fernsehserien wie ›Lost‹, ›True Blood‹ oder ›Breaking Bad‹ konsumiert, fragt er ja auch nicht, warum da Vampire mit den Red Necks zusammenleben. Die jüngere Generation stellt solche Fragen gar nicht. Ich finde, dass ein Bild wie dieses den Bürger im Jahre 2011 ernster nimmt als viele Positionen der zeitgenössischen Malerei. Und frage mich, warum sie den Weg verlassen hat.«

 

Hast Du eine Idee?

 

Eine Vermutung, ja (lacht). Ich glaube, dass sich irgendwann in der Moderne so ein Fetischglaube eingestellt hat, der auch mit Rock- und Popmusik zu tun hat: dass du als Künstler mit deiner Sozialisation und Referen­zen das Bild aufwerten kannst und das dann auch auf dich zurückfärbt – wenn du ein cooles Bild malst bist du ein cooler Typ. Das ist ja ein Belohnungssystem, dass einen verleitet, den Weg des Deutens zu gehen.«

 

Wir tun das heute nicht, überspringen die Moderne im zweiten Stock und werfen noch einen Blick ins Untergeschoss. Aber die Jubiläumsausstellung sagt Berresheim wenig – 2011 und »True Blood« finde er hier eher nicht. Dafür endlich »Die Versuchung des Heiligen Antonius« von 1520, die er oben vermisst hatte: »ein riesen What The Fuck!«