Deutsches Kulturgut erfolgreich unterwandert: "Faust" mit Johannes Zeiler und Anton Adasinsky

Online-Extra: Im Sande verlaufen

Vom roten Teppich in die Baugrube: Das 68. Filmfestival von Venedig überzeugte trotz aller infrastrukturellen, logistischen und finanziellen Probleme

Am Ende des Festivals ist der Zaun voller Löcher. Neugierige Passanten haben an dutzenden Stellen die Plane aufgerissen, die das Metallgitter rund um die Baugrube neben dem roten Teppich umschließt. Der Blick wird frei auf ein fußballfeldgroßes Areal, das aussieht als habe Christo ein antikes Gräberfeld in weiße Plane verpackt. Geplant war hier dieses Jahr einen neuen futuristischen Festivalpalast zu eröffnen, der sich bis in den nahen Lidostrand bohren sollte. Stattdessen wird die Grube demnächst einfach wieder zugeschüttet. Erst ein Asbestfund und dann die italienische Schuldenkrise haben die ehrgeizigen Pläne buchstäblich im Sande verlaufen lassen.


Das ist nicht die einzige Baustelle auf dem Lido: Wenige hundert Meter die Strandpromenade hinunter wird das legendäre Hotel des Bains seit letztem Jahr von einem Gerüst verdeckt. Hier wo Luchino Visconti Thomas Manns Tod in Venedig verfilmte und unzählige Filmstars während des Festivals logierten, entstehen jetzt Luxusapartments für Superreiche. Die katastrophale Hotelsituation während der Festspiele bleibt derweil ungelöst.


Umso höher ist es Festivalleiter Marco Müller anzurechnen, dass er trotz aller infrastrukturellen, logistischen und finanziellen Probleme auch dieses Jahr wieder ein Wettbewerbsprogramm zusammengestellt hat, dass den Machern der wesentlich größeren Festivals von Cannes und Berlin eigentlich grün vor Neid werden lassen sollte. Sicher, Cannes hat mehr große Namen, aber in diesem Jahr wussten die Regiestars längst nicht alle zu überzeugen, während in Venedig bis auf wenige Ausnahmen alle die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen konnten.


Das begann mit George Clooneys »The Ides of March« (deutscher Start: 22.12.) - der seltene Fall eines Festival-Eröffnungsfilms, der das Premierenpublikum nicht unbedingt in Sektlaune aus dem Kino entlässt. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Politmanagers, der im amerikanischen Vorwahlkampf allen Idealismus verliert. Seinen Chef, einen demokratischen Gouverneur, der um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten kämpft, spielt Clooney selbst. Und zwar so überzeugend und sympathisch, dass man zunächst glaubt, er wolle sich trotz aller immer wieder geäußerten Dementi tatsächlich für ein Amt empfehlen.


Es kommt dann aber alles ganz anders. Am Ende ist »The Ides of March« wesentlich desillusionierter als das gesamte politische Kino Hollywoods der George-W.-Bush-Jahre. Was einen einfachen Grund hat: Damals war wenigstens klar, wogegen es ging. Daher ist Clooneys vierte Regiearbeit der perfekte Film für die große Obama-Enttäuschung - und damit näher dran am amerikanischen Post-68er, Post-Watergate Kino als vieles, was in den letzten zehn Jahren in diese Traditionslinie gestellt wurde.


»The Ides of March« sieht man nicht an, dass er auf dem Theaterstück »Farragut North« von Beau Willimon basiert. Roman Polanskis »Der Gott des Gemetzels« (deutscher Start 24:11) verleugnet dagegen nie, dass er eine Verfilmung von Yasmina Rezas gleichnamigem Erfolgsstück ist. Es bleibt beim Kammerspiel. Zwei bürgerliche Ehepaare treffen in einer New Yorker Wohnung aufeinander. Der Sohn des einen hat den Sohn des anderen mit einem Stock ins Gesicht geschlagen. Die Sache soll wie unter Erwachsenen geregelt werden: rational, abgeklärt, gesittet.


Doch von der ersten Minute weiß der Zuschauer, dass die Maske der Zivilisiertheit fallen wird. Je nachdem, ob man zum Fremdschämen neigt oder nicht, ist die Entblößung der Figuren entweder brüllend komisch oder schwer zu ertragen. Inszeniert ist »Der Gott des Gemetzels« auf jeden Fall brillant. Vier Personen fast anderthalb Stunden auf so begrenztem Raum in Szene zu setzen, ohne auch nur in einer Szene die Aufmerksamkeit des Publikums zu verlieren, ist mindestens ebenso schwer wie einen 200-Millionen-Actionreißer zu meistern.


Auch David Cronenbergs »Eine dunkle Begierde« (deutscher Start: 10.11.) basiert auf einem Bühnenstück (»Die Methode« von Christopher Hampton). Eine rasende Kutschfahrt zu Beginn des Films lässt allerdings eher ein B-Movie erwarten als eine Theateradaption. Doch auch wenn Keira Knightley zunächst in der Rolle der Psychiatriepatientin Sabina Spielrein in Spasmen umherzuckt und ihren Unterkiefer so weit vorschiebt, als wolle sie sich für die Titelrolle in einer »Alien«-Fortsetzung empfehlen, ist »Eine dunkle Begierde« ein erstaunlich zurückgenommener Film des ehemaligen Horror-Avantgardisten Cronenberg.


Der zum Teil in den Kölner MMC-Studios gedrehte Film erzählt von der Konkurrenz zwischen Freud und Carl Jung und davon, wie Spielrein die Entwicklung der Psychoanalyse beeinflusste. Auch wenn Cronenberg darauf verzichtet, die Monstren des Unterbewusstseins auf die Leinwand kriechen zu lassen, läuft »Eine dunkle Begierde« nie Gefahr, zum betulichen Ausstattungskino zu erstarren.


In der John-le-Carre-Verfilmung »Dame, König, As, Spion« (deutscher Start: 2.2) dagegen ist die Ausstattung so dominant, dass Hauptdarsteller Gary Oldman in ihr zu verschwinden scheint. Das ist natürlich Absicht: Denn der Film bewegt sich in der Welt der Geheimdienste, wo Unauffälligkeit Berufspflicht ist. Die bleierne Zeit des Kalten Krieges spiegelt sich so bedrückend in der grauen Möblierung des britischen Secret Service, dass es einem schaudert.


Nie war ein Spionagethriller so glamour- und actionfrei. Der schwedische Regisseur Tomas Alfredson (»So finster die Nacht«) scheint sich ein Vorbild an den Filmen seines Landsmanns Roy Andersson (»Songs from the Second Floor«) genommen zu haben und weniger an James Bond. Auch wenn die Tempoverschleppungen und Handlungsverschachtelungen manchmal fast maniriert wirken, hätte dieser mutige Film einen Preis verdient.


Er ging aber am Ende ebenso leer aus wie »The Ides of March«, »Der Gott des Gemetzels« und »Eine Dunkle Begierde«. Das heißt nicht, dass die Festival-Jury die falschen Filme ausgezeichnet hätte, sondern lediglich, dass die 68. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica mehr preiswürdige Leistungen zu bieten hatte, als Löwen zu vergeben waren.


Die Jury unter Vorsitz von Darren Aronofsky entschied sich schließlich dafür »Faust« von Aleksander Sokurov mit dem Goldenen Löwen auszuzeichnen. Ein Bekenntnis zu einem Kino der Überforderung. Doch das Besondere am Werk des Russen ist, und das gilt besonders für »Faust«, ist, dass es trotz aller Überfülle, Gedrängtheit, Dichte einen halluzinatorischen Sog erzeugt wie ein unheimlicher Wachtraum. Sokurovs Version des unkaputtbaren Klassikers ist zugleich konservativ und subversiv. Zeit und Setting hat er von Goethe übernommen, auf irgendwelche offensichtlichen Modernisierungen verzichtet er.


Und doch treibt er seine Verwirrspiele mit dem Drama. Einige der bekanntesten Verse verkehrt er in ihr Gegenteil oder schiebt sie anderen Figuren in den Mund. Gleich zu Beginn lässt er den fauligen Penis einer Leiche ins Bild ragen, die Dr. Faust gerade auf der Suche nach einer Seele obduziert – das bürgerliche Theaterpublikum dürfte seine Schwierigkeiten mit dieser Interpretation deutschen Kulturguts haben, aber auch sonst wird es schwierig sein, Zuschauer für diesen sperrigen Film zu finden. Da verwundert es nicht, dass bislang kein deutscher Verleih angebissen hat.


Eine zugänglichere, aber dennoch radikale Interpretation eines beliebten Literaturklassikers lieferte Andrea Arnold (»Fish Tank«). Emily Brontës »Wuthering Heights« (noch kein Deutschlandstart) wurde noch nie so realistisch auf die Leinwand gebracht. Ihr Film scheint geradezu nach Pferdeäpfeln, Moor und Besenheide zu riechen. Dass sie die Rolle des Heathcliff mit einem Schwarzen besetzt, hat für viele Diskussionen gesorgt, ist aber letztlich unbedeutend. Wichtiger ist, dass es ihr mit ihrem brillanten Kameramann Robbie Ryan gelingt, ein fast haptisches Kino zu schaffen. Niemand hat in Venedig eindrücklicher das sinnliche Erleben der Welt auf der Leinwand abgebildet. Dafür gab es den Preis für die beste Kameraarbeit.


Nach diesem herausragenden Jahrgang bleibt die Frage, wie die Zukunft des Festivals aussehen wird. Statt eines neuen Festivalpalastes sollen die alten Gebäude umfassend renoviert werden (was nicht deutlich billiger sein muss, wie die Kölner Erfahrungen mit dem Schauspielhaus zeigen). Derweil läuft der Vertrag mit Festivaldirektor Marco Müller dieses Jahr aus. Offiziell heißt es, die Nachfolgefrage sei noch völlig offen. Italienische Medien hatten bereits vor Monaten über einen Wechsel Müllers zum Filmfestival nach Rom berichtet. Bis vor der Tsunami-Katastrophe gab es ebenfalls Gerüchte, der promovierte Anthropologe und Asienexperte gehe nach Tokio. Er selber dementiert alle Spekulationen und verkündete, sein Traum sei es, wieder als Filmproduzent zu arbeiten. Doch ähnlich äußerte er sich auch schon vor zwei Jahren – und blieb in Venedig.

 

 

Die Preisträger

Goldener Löwe für den besten Film

»Faust« von Aleksander Sokurov


Silberner Löwe für den besten Regisseur

Shangjun Cai für »People Mountain People Sea«


Spezialpreis der Jury

»Terraferma« von Emanuele Crialese


Coppa Volpi für den besten Schauspieler

Michael Fassbender in »Shame« von Steve McQueen


Coppa Volpi für die beste Schauspielerin

Deanie Yip in »A Simple Life« von Ann Hui


Osella für die beste Kamera

Robbie Ryan für »Wuthering Heights« von Andrea Arnold

 

Osella für das beste Drehbuch

Yorgos Lanthimos und Efthimis Filippou für »Alps« von Yorgos Lanthimos