»Intelligente und unkonventionelle Lösungen«

Nach dem Tod von Stephan Neisius müssen sich sechs

Polizeibeamte wegen schwerer Körperverletzung verantworten. Ihre Brutalität ist jedoch kein Einzelfall

Amnesty international erhielt erneut von Vorwürfen Kenntnis, denen zufolge Polizeibeamte Häftlinge misshandelt haben. Beschwerdeführer berichteten, sie seien – zumeist bei der Festnahme – wiederholt mit Fußtritten und Schlägen traktiert worden.« Als ai am 28. Mai den Jahresbericht 2002 vorlegt – das Zitat stammt aus dem Länderbericht Deutschland –, ist der 31-jährige Stephan Neisius schon vier Tage tot.
Die sechs Beamten, die Stephan Neisius misshandelt haben, sind vom Dienst suspendiert, gegen sie wird wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Ob der Verdacht auf Körperverletzung mit Todesfolge erweitert wird, hängt vom Ergebnis der Obduktion ab, die medizinisch klären soll, ob der Tod von Stephan Neisius ursächlich mit den Misshandlungen zusammenhängt. Ein Untersuchungsbericht des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Köln (14./15. Mai) weist jedoch bereits daraufhin, dass auf Stephans linker Stirnhälfte »ein deutlich geformtes, frisches Hämatom, nach Art eines Schuhsohlenabdrucks« befindet. Ob das und die anderen Verletzungen durch polizeiliche Tritte und Schläge das Hirnödem ausgelöst haben, aufgrund dessen Stephan ins Koma fiel, könne nicht gesagt werden.
Einer der gewalttätigen Polizisten war bereits zwölfmal wegen Körperverletzung und anderer Delikte angezeigt. Die Anzeigen blieben folgenlos, nicht zuletzt weil seine Vorgesetzten ihm ein wohlwollendes Zeugnis ausstellten. Als Chef der Polizeiinspektion Innenstadt, d.h. vier Polizeiwachen inklusive der am Eigelstein, trägt Jürgen Sengespeik die Verantwortung für dieses Vertuschen, dessen weiteres Ausmaß nur zu erahnen ist. Da Sengespeik nicht bereit war, von seinem Amt zurückzutreten, wurde er von Polizeipräsident Klaus Steffenhagen nach Nippes strafversetzt.

\"Berufliche Lebensleistungen\"

Gleichzeitig legt Steffenhagen in einer Presseerklärung vom 23. Mai »aber auch besonderen Wert auf die Feststellung, dass ich den Leitenden Polizeidirektor Sengespeik für einen verdienten Polizeiführer halte, vor dessen beruflicher Lebensleistung ich große Hochachtung empfinde. Er hat sich in vielen Funktionen bewährt – darunter auch bei einem Auslandseinsatz in Bosnien. In den letzten Jahren hat er als Leiter der Innenstadt-Inspektion und als Abschnittsführer bei Großeinsätzen (u.a. »Gipfeleinsätze«) durch intelligente und unkonventionelle Lösungen eine Vielzahl von brisanten Einsatzlagen bewältigt.«
Intelligent und unkonventionell. So zum Beispiel der Einsatz von 200 Polizisten unter Sengespeiks Leitung auf dem Rudolfplatz im Juni 1996. Ohne Vorwarnung werden die Teilnehmer einer Pressekonferenz eingekesselt, die anlässlich eines Solidaritätshungerstreiks für politisch Inhaftierte in der Türkei stattfand. Die Kölner Fotografin Ute Moschner berichtet anschließend, die (seit 19 Tagen) Hungerstreikenden seien »von mehreren Polizeibeamten aus der Menge gezerrt, auf den Boden geworfen, die Hände auf dem Rücken geknebelt und in den Polizeiwagen geschleift« worden. »Bei dem Einsatz sind einem Mann die Finger einer Hand und das Bein gebrochen worden, mehrere Personen sind am Kopf verletzt worden, einige hatten Kreislaufzusammenbrüche«, so Moschner weiter.
Vielleicht ist auch der Einsatz am 1. Mai 1999 gemeint. Wegen eines Transparents mit der Aufschrift »Wir scheißen auf Deutschland« werden Demonstranten brutal festgenommen. Marianne Hurten weist sich als Mitglied der Grünen im Landtag aus und will mit Leiter Sengespeik über den »unverhältnismäßigen Einsatz« sprechen. Sengespeik erteilt daraufhin sofort den Befehl: Abräumen! »Nach dem Abräumbefehl wurde ich hart an den Oberarmen gepackt und durch Schubsen, Zerren und Rempeln entfernt«, so Marianne Hurten. Auf Nachfrage der damaligen Grünen Fraktionsvorsitzenden im Kölner Rat, Anne Lütkes, ist Sengespeik nicht bereit, die Rechtsgrundlage für den Einsatz darzulegen.

Maßnahmenkette

Was die Säuberung der Innenstadt von Wohnungslosen und Bettelnden angeht, hat sich Sengespeik ebenfalls einen Namen gemacht. Im Juni 1998 verteilt er auf der Domplatte eigenhändig Zettel, die darauf hinweisen, dass die Polizei im Falle des Bettelns folgende »Maßnahmenkette« auslösen werde: Platzverweis, Innenstadtverbot, Bußgeldverfahren (»bis zu 1000 DM«); Beschlagnahmung von Hab und Gut. Auch die Entfernung der Klagemauer von der Domplatte und die fortwährende Traktierung des Klagemauer-Initiators und Trägers des Aachener Friedenspreises von 1998, Walter Herrmann, gehen vor allem auf sein Konto. Die kommunalen Politiker sahen sich in den seltensten Fällen genötigt, jemanden wie Sengespeik zurückzupfeifen.
Die sechs Polizisten müssen sich nun persönlich vor Gericht für ihre Gewalttaten verantworten. Neben ihnen auf der Anklagebank sitzt ein Polizeiapparat mit Vorgesetzten, die ein Klima schaffen, in dem brutales Verhalten gegenüber Wehrlosen ein gängiges ordnungspolitisches Instrument ist. Die Brutalität hat jedoch ein Ausmaß erreicht, dass einer der beiden aussagewilligen Polizeibeamten unter Tränen zu Protokoll gibt, er habe sich bei den Misshandlungen eines Wehrlosen an die SS erinnert gefühlt. Steffenhagen will nun prüfen lassen, »ob es in der Behörde Informations- und Kommunikationsmängel gegeben hat, die das schreckliche Geschehen begünstigt haben könnten«. (yg)


Ein »Irrer Randalierer« wird zum »Polizei-Opfer«
Die Berichterstattung über den Fall Stephan Neisius hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack

Der erste Polizeibericht vom 12. Mai über die Verhaftung und spätere Misshandlung von Stephan Neisius auf der Eigelsteinwache sprach vom »Randalierer« mit »erheblicher Widerstandsleistung«, der »hysterisch schrie«, »sich wie von Sinnen gebährdete« und »tobte«. Zu den Gewaltakten der Beamten heißt es schlicht, man habe ihn nur »mit Hilfe von Verstärkung und Pfefferspray« fesseln können. Nach dem Hinweis auf Kollabierung und attestierter Lebensgefahr kommt lediglich die Zeile: »Nach ersten Erkenntnissen weist der Mann keine äußeren Verletzungen auf, die den kritischen Zustand erklären könnten.«
Diese offensichtlichen Ungereimtheiten waren vor allem der lokalen Presse keinen zweiten Blick wert, weitgehend unkritisch wird aus den Polizeiberichten abgeschrieben. Der Express vermeldet am nächsten Tag lapidar: »Irrer Randalierer fällt ins Koma«. Und sowohl Öffentlichkeit als auch Behörde hätten bei diesem Stand der Dinge wohl keine weiteren Fragen gehabt. Die Deutsche Presseagentur dpa hat von diesem ersten Bericht an bis in den Juni hinein in ihren Meldungen die Formulierung »Randalierer« beibehalten.

Erklärungsnot

Als jedoch am 14. Mai die Aussage zweier Beamter, die die Misshandlungen ihrer Kollegen beobachtet hatten, den Vorfall zum Fall werden ließ, wurde die Erklärungsnot groß. Unentschlossen sprechen die Polizeiberichte jetzt vom »31jährigen Mann«, während der Express aus ihm den »100-Kilo-Mann« macht. Im Laufe der darauffolgenden Tage findet der Express sein neues Feindbild: Der verdächtige Polizist Lars S. ist nun der »Rambo in Uniform«, Stephan Neisius »das Polizei-Opfer«. Beim Kölner Stadt-Anzeiger ist vom »renitenten Handwerker« die Rede, vom »Tobenden« und »mehr als zwei Zentner schweren Mann«, der dazu noch »seit langen Jahren arbeitslos« war und »psychische Probleme« hatte. Selbst die taz kennt zunächst den »Zweizentnermann«, erst im Laufe der Erkenntnisse wird er zum »Thrombose-Kranken«; Süddeutsche Zeitung und FAZ kennen den »Randalierer«, und auch die Bild am Sonntag entscheidet sich für den »100-Kilo-Mann«.

Gesichtslose

Der Hang zur verkürzten Biographie bei Menschen, die in Polizeivorgänge involviert sind, mag amtsintern vielleicht hilfreich sein, doch er leitet die Einschätzung der Vorgänge durch die Öffentlichkeit fehl. Besonders übel stößt das den FreundInnen und Verwandten des Opfers auf. Für sie hat der Tote durch die Berichte »sein Gesicht verloren«. In Appellen und in einer Todesanzeige versuchen sie nunmehr, auf die Persönlichkeit hinzuweisen, die der Öffentlichkeit bis zuletzt verborgen blieb. Da ist vom humorvollen, originellen, kulturbegeisterten und gelassenen Menschen mit vielen Talenten die Rede. Thomas Krutmann vom Gebäude 9, in dem Stephan Neisius mitarbeitete, sagt: »Wer Stephan nicht kannte und die Zeitungen liest, denkt sich vielleicht: Naja, bei so einem Randalierer, wahrscheinlich noch asozial, alles kein Wunder. Tatsächlich aber war er alles andere als das, er war ein Mensch wie ich und Du.«
Klar ist: Ob jemand ein »Zwei-Zentner-Mann« ist oder »ca. 95 kg schwer«, »Randalierer« oder »in Panik« – die Melodie der Formulierung setzt Assoziationen frei, die den Betroffenen in diesem Falle zu einer zweifelhaften Außenseiterfigur stilisieren. »Und sowas ist wahrscheinlich prozessvorbereitend«, vermutet Krutmann. Es mag vielleicht nicht beabsichtigt sein, doch die verkürzte Darstellung der Medien schafft die Voraussetzung dafür, das Opfer im Prozess zum Schuldigen zu machen. (mk)