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Function Follows Form

Mit seinen Projekten verfolgt der Pianist Francesco Tristano eine brutal offenherzige Techno-Klassik-Synthese

Wer sich ein bisschen für Techno interessiert, wird um die Veröffentlichungen des Berliner Labels Basic Channel nicht herum kommen. Verrauschte, hallige, tief bassig pulsierende Musik, die gleichzeitig prähistorisch und futuristisch klingt, skizzenhaft und monolithisch. Das Maximum an Ernsthaftigkeit im Techno-Genre.

 

Das war Anfang der 90er Jahre. Nun stelle man sich vor, man hätte einem Basic-Channel-Afficionado prophezeit, dass zwan­zig Jahre später einer der Produzenten des Labels – der lange Zeit sagenumwobene, da auf strikte Anonymität pochende Moritz von Oswald – mit Musikern aus einem Sinfonie-Orchester auf den Bühnen großer, alteuropäischer Konzerthallen stünde. Neben ihm wäre noch Carl Craig zu sehen, einer der zentralen Detroiter Techno-Produzenten, und angeleitet würde diese merkwürdige Combo von einem androgynen, lockenköpfigen Jüngling mit Halstuch, offenem Hemd und Frack.

 

Er würde mit großer Geste dirigieren, aber vor allem würde er selber spielen: Klavier. Richtig, er würde auf dem Klavier typische Techno-Patterns spielen, Stücke von Jeff Mills, Derrick May, Carl Craig und vielleicht sogar Moritz von Oswald zitieren. Die Sinfoniker würden ihm darin brav folgen, und wie Statuen ihrer selbst stünden im Hintergrund die großen Produzenten, steuerten elektronische Untermalung bei und wüssten nicht so recht, ob sie wirklich die Haupt- und doch eher Nebendarsteller wären.

 

Kein Postrocker, kein Dekonstrukteur, kein Sound-Archäologe

 

Vorstellbar? Unvorstellbar. Und doch Realität. Vor drei Jahren hat der 1981 geborene Pianist Francesco Tristano dieses Techno-Klassik-Programm entwickelt. Er hat seine Solo-Aufnahmen von Moritz von Oswald (»Auricle/Bio/On«, 2008) und Carl Craig (»Idiosynkrasia«, 2010) produzieren – also elektronisch verfremden und manipulieren – lassen. Auf »Not for Piano« (2007) hören wir den in Barcelona lebenden Luxemburger ausschließlich am Flügel, wie er Techno-Hits (Klassiker!) adaptiert. Für seine diesjährige Rückkehr in rein e-musikalische Gefilde mit seinem Programm »bachCage« hat er abermals von Oswald als Produzenten gewonnen.

 

Tristano, der auch als Model reüssieren könnte, galt noch Mitte des letzten Jahrzehnts »einfach nur« als großes Pianistentalent, ausgebildet an den besten Schulen, schon in den 90ern Solist in diversen Sinfonie-Orchestern, seit 2001 Leiter und Dirigent eines eigenen Ensembles, zudem ein kühner Improvisator auf dem Feld der europäischen Klassik. Tristano hat nicht länger gewartet, bis er Schritt für Schritt zum Klassik-Star aufgestiegen ist, er hat die Abkürzung über den Pop gewählt. Mit einer Kaltschnäuzigkeit und Zielstrebigkeit, die man in diesen Jahren so nicht mehr erwartet hätte. Denn Tristano ist kein Postrocker, also kein Dekonstrukteur konventioneller Pop-Formen, kein Sound-Archäologe. Er überträgt Techno-Mus­ter direkt auf einen klassischen Klangkörper, er stellt seinen Piano-Techno unmittelbar neben Kompositionen von Bach, John Cage, Arvo Pärt oder Stücken des Frühbarock-Komponisten Girolamo Frescobaldi.

 

Stimmt die große Form, fügt sich alles andere

 

Es funktioniert. Es ist pompös, bombastisch, affektiert, manieriert, alles mögliche. Aber es funktioniert. Man ist nicht peinlich berührt, sondern fasziniert. Die jungen Leute interessieren die Kategorisierungen sowieso nicht, sie stürmen die alten Konzertsäle und fangen zu tanzen an, während die Saalordner aufgeregt hin und her rennen, um vergeblich strenge Ermahnungen auszusprechen.

 

Es funktioniert deshalb, weil Tristano sich präzise Gedanken über die Form »Konzert« gemacht haben muss. Er weiß um den perfekten dramaturgischen Aufbau, der bei seinen Performances – egal ob solo, im Trio mit seiner Combo Aufgang oder im sinfonischen Format mit alten Produzenten-Legenden – so geradlinig vonstatten geht, so dynamisch und dennoch voller raffinierter Wendungen, Antäuschungen und Abzweigungen, dass es schlicht egal ist, ob Tristano noch würdevoll oder schon prätentiös agiert. Wenn man eine gute Geschichte zu erzählen hat und um Ökonomie der Mittel weiß, spielt die vielleicht eigenwillige Syntax des Autors keine Rolle mehr. Stimmt die große Form, fügt sich alles andere. Tristano weiß das, und er beherrscht die große Form perfekt.

 

Hang zur etwas überkandidelten Geste

 

Aufgang, das Trio, mit dem er im Oktober in Köln gastieren wird, ist gewissermaßen der Nullpunkt seiner Auseinandersetzung mit Techno. 2005 geben Tristano und sein Kumpel, der Pianist Rami Khalifé, der mit Tristano an der renommierten New Yorker Juilliard School studiert hat, in einer Galerie in Barcelona ein Konzert mit klassischer Musik. Im Publikum ist, zufällig, das Detroiter Techno-Genie Jeff Mills. Ihm zu Ehren spielen sie als Zugabe auf dem Flügel vierhän­dig eine Version seines Tracks »Bells«. Mills ist vom Donner gerührt und lädt sie spontan auf ein von ihm kuratiertes Festival ein. Ergänzt um den Percussionisten Aymeric Westrich sind Tristano und Khalifé seitdem als Aufgang unterwegs.

 

Mit diesem Trio bewegt sich Tristano am weitesten weg von seinen Wurzeln im Klassischen – scheinbar. Denn das ausgeprägte Formbewusstsein, seine – und Khalifés – Fähigkeit am Piano so zu agieren wie ein DJ hinter den zunehmend virtuellen Plattenspielern, der Mut zum stilistischen Bruch, zum abrupten Wechsel und den Hang zur etwas überkandidelten Geste ist in jeder Sekunde zu spüren. Er ist längst kein Interpret mehr, sondern arbeitet am eigenen Werk. Dazu gehört, dass sich Tristanos Trademark in all seinen Projekten widerspiegelt. Noch kann man von ihrem Schillern gar nicht genug bekommen.