»Ein einziger großer Volksbildungsprozess«

In der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre wird der kommunale Haushalt nicht den Politikern überlassen: Die BürgerInnen haben direkten Einfluss darauf, wofür wieviel Geld ausgegeben wird. Das minimiert die Korruption, fördert die Transparenz und könnte auch für europäische Städte ein Modell sein. Gerhard Dilger, der derzeit in Porto Alegre lebt, erklärt wie es funktioniert.

Montagabend kurz vor sieben: Auf dem Schulhof der Plácido-de-Castro-Schule versammeln sich Eltern und LehrerInnen. Allerdings steht kein gewöhnlicher Elternabend auf dem Programm, sondern der »Kampf um ein neues Schulgebäude«. So heißt es auf dem Spruchband, das eine Lehrerin abhängt und in den gemieteten Bus mitnimmt. Doch die Reise geht nicht zu einer Protestveranstaltung im Stadtparlament, sondern zum Pfarrsaal der Navegantes-Kirche im Norden von Porto Alegre. Dort findet eine Bezirksversammlung des Orçamento Participativo (OP) statt, zu deutsch: Beteiligungshaushalt. Direktorin Tánia Simeão, ihre KollegInnen und 40 Eltern wollen erneut für ihr Projekt streiten. Bisher nämlich werden die 250 SchülerInnen der bescheiden ausgestatteten Hauptschule in Holzhäusern unterrichtet. Nach gut 30 Jahren drohen die Klassenzimmer endgültig den Holzwürmern zum Opfer zu fallen.
Die Mittel sind knapp, und die Bedürfnisse der 1,4 Millionen EinwohnerInnen Porto Alegres groß. Das war schon 1988 so, als die linke Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT) die Macht übernahm. Seitdem wird in der Hauptstadt des südbrasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul ein Demokratiemodell erprobt, das weltweit auf Interesse stößt: der Beteiligungshaushalt. Zu Beginn war die Gegnerschaft des einheimischen Establishments zur PT enorm. Also machte sich die Linkspartei daran, ihre »Isolation zu durchbrechen«, erinnert sich Luciano Brunet, der den Prozess von Anfang an begleitet hat. Bis letztes Jahr arbeitete er im Büro für Bürgerbeziehungen, einer wichtigen städtischen Koordinationsstelle für den Beteiligungshaushalt. »Wir fingen an, den Mangel transparent zu verwalten«, erzählt Brunet. »Die Bevölkerung wurde nach Prioritäten gefragt, die wenigen Gelder in den bedürftigen Stadtvierteln konzentriert.« Nach diesen beiden Prinzipien funktioniert das OP bis heute.

Jenseits von Korruption und Vetternwirtschaft

Auf Bürgerversammlungen in 16 Bezirken werden jährlich ab März die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Oder vielleicht doch die Asphaltierung zweier Nebenstraßen? Parallel dazu beraten VertreterInnen von Basisbewegungen auf fünf thematischen Foren über die Struktur der Investitionen, die nur rund 15 Prozent des gesamten Etats ausmachen. Der Löwenanteil besteht aus laufenden Kosten, vor allem den Gehältern der städtischen Angestellten. Bis Ende Mai stehen in den Bezirken die Prioritäten fest. Wohnraum und Bildung gehören regelmäßig zu den Spitzenreitern, aber auch die Pflasterung von Straßen, der Bau von Wasser- und Abwasserkanälen und Investitionen im Gesundheitsbereich.
Bis Ende September erarbeiten die Delegiertenversammlungen detaillierte Investitionspläne. Die Exekutive gibt dabei technisch-administrative Hilfestellung. Der Bürgermeister präsentiert die Vorschläge unverändert dem Stadtparlament, das bis Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet. Obwohl nicht die PT, sondern bürgerliche Oppositionsparteien die Mehrheit der Stadträte stellt, werden in dieser Phase kaum noch Veränderungen vorgenommen. Durch diese Form der direkten Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft, ein Grundübel (nicht nur) brasilianischer Politik, in Porto Alegre deutlich zurückgegangen. Dieses Klima hat entscheidend dazu beigetragen, dass Porto Alegre zu einem Mekka für GlobalisierungskritikerInnen geworden ist: Im Januar 2003 findet dort die dritte Auflage des Weltsozialforums statt.

Radikale Demokratisierung

Der Beteiligungshaushalt ist für den ehemaligen Bürgermeister Tarso Genro der »Versuch einer radikalen Demokratisierung«, ein »Mechanismus direkter Partizipation«, der gerade die sonst ausgeschlossenen Mehrheiten viel stärker einbeziehe und sie nicht zu Stimmvieh degradiere. In der Tat engagieren sich beim Beteiligungshaushalt vor allem Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Voraussetzung für den Erfolg ist die Mobilisierung: Im Pfarrsaal der Navegantes-Kirche sagen die SprecherInnen von acht Gruppen, wo sie der Schuh drückt. Ähnlich wie die Direktorin der Plácido-do-Castro-Schule werben sie in Reden und mit Spruchbändern für den Bau von Sporthallen, Kulturhäusern und Gesundheitsposten. Die TeilnehmerInnen vergeben Punkte für drei Optionen – und werden dadurch gezwungen, sich auch mit den Anliegen der anderen auseinanderzusetzen. Pro 20 TeilnehmerInnen der Bezirksversammlung wird ein Delegierter gewählt, der sich auf den restlichen Sitzungen des Jahres für »sein« Projekt stark macht.
Doch trotz dieser stark auf die Armen ausgerichteten Politik könne die Stadtregierung die sozialen Probleme nur lindern, räumt Luciano Brunet ein. »Natürlich wirkt sich die brasilianische Wirtschaftskrise, vor allem die Arbeitslosigkeit, auch auf Porto Alegre aus«, sagt er. Die brasilianischen Kommunen erhalten nur rund 14 Prozent aller Steuereinnahmen – mit sinkender Tendenz. In Europa sei dieser Anteil im Schnitt drei Mal so hoch. Konservative beklagen, dass Mitglieder der Arbeiterpartei den gesamten Prozess dominierten. Die PT verstoße gegen in der Verfassung vorgegebene Mechanismen der repräsentativen Demokratie, behauptet etwa der emeritierte Politologe José Giusti Tavares. Für ihn ist der Beteiligungshaushalt ein »Machtinstrument der PT«. Die Tageszeitungen ignorieren die Versammlungen in der Regel – aus dem feinen Gespür heraus, dass der durchaus populäre Prozess so etwas wie eine friedliche »Kulturrevolution« darstellt, wie Universitätsprofessor und Kolumnenautor Denis Rosenfield einräumt, der ansonsten ein profilierter PT-Kritiker ist. Die letzte Bürgermeisterwahl gewann die PT mit 63 Prozent.

Transparenz und Schwächen

Schwächen des Verfahrens wurden auf einem Seminar benannt, zu dem ForscherInnen aus aller Welt vor einem Jahr zusammenkamen: Die fehlende Trennschärfe zwischen sogenannter Zivilgesellschaft und Regierung, die häufig die fähigsten TeilnehmerInnen auf ihre Seite ziehe, die – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – relativ geringe Beteiligung, die Abgehobenheit der Sprache und die mangelhafte Fortbildung der regelmäßigen TeilnehmerInnen, die Vernachlässigung der Anliegen von Frauen, Behinderten oder ethnischen Minderheiten. Und vor allem: die mangelnde Transparenz für all jene Bürger, die sich nicht aktiv beteiligen können oder wollen.
Nach dieser Debatte kam es zu mehreren Neuerungen: Zwei Monate lang können nun über das Internet konkrete Vorschläge unterbreitet werden – in diesem Jahr waren es 166. Die Delegierten müssen diese Vorschläge genauso gewissenhaft prüfen wie jene aus den Versammlungen. Einen »qualitativen Sprung« zu mehr Transparenz sieht Luciano Brunet jedoch vor allem in der Entscheidung, alle beschlossenen Maßnahmen in das Netz zu stellen – mit dem jeweiligen Stand der Umsetzung. »Auf einmal sind die Referenten nicht mehr nur dem Bürgermeister und dem Parlament Rechenschaft schuldig, sondern direkt und ganz spürbar der Bevölkerung«, so Brunet.
Der von der UNO und selbst von der Weltbank gepriesene Beteiligungshaushalt hat in über 100 brasilianischen Städten Schule gemacht und auch begeisterte Anhänger in Brüssel, Barcelona, Montevideo und Buenos Aires gefunden. »Die Erfahrung von Porto Alegre sollte aber nicht einfach kopiert werden«, meint der Potsdamer Politologe Carsten Herzberg, der über das Thema seine Doktorarbeit schreibt. Doch mit den nötigen Anpassungen an die lokalen Gegebenheiten sei der Beteiligungshaushalt als Ausdruck einer »aktiven Bürgerschaft« durchaus auch für Städte in Europa attraktiv. M
LITERATURTIPPS:
Carsten Herzberg, »Wie partizipative Demokratie zu politisch-administrativen Verbesserungen führen kann: der Bürgerhaushalt von Porto Alegre«, LIT Verlag Münster – Hamburg – London 2001, 168 Seiten, 15,90 Eur.
»Vom Süden lernen – Porto Alegres Beteiligungshaushalt wird zum Modell für direkte Demokratie«, DGB Bildungswerk/Misereor 2002, 3 Eur.