Die Schule der Kadaver

Ein Blick zurück in Liebe: Uli Hufen über die sowjetische Popmusik und ihren exzentrischen Nachlassverwalter Graf Hortiza.

 

Die Bürger Moskaus lieben es; so wie man es liebt, wenn heißes Kerzenwachs über die Haut fließt. Es tut ein bisschen weh, aber der Lustgewinn wiegt den Schmerz auf. Es ist Mittwoch, 23 Uhr. Eine markerschütternde Stimme hallt durch die Straßen und Wohnzimmer Moskaus. Graf Hortiza hat seine Stimme erhoben, und er spricht mit der Autorität dessen, der die Mächte der Finsternis auf seiner Seite weiß. Und er sagt: »Wennnn — Sieee — sich wi-der-set-zen, müssen wir sie lei-der ein wenig be-un-ruhigen!« Langsam. Drohend. Einschmeichelnd. Dann beginnt die grausamste, schönste und verrückteste Radioshow, die diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhangs je gesendet wurde: »Die Schule der Kadaver«.
Die Sendung will aufklären und bilden, der Name sagt es deutlich. Der Lehrplan aber ist speziell. In der Schule des Grafen, der im Leben Garik Osipov heißt, werden Mathe und Physik gar nicht gegeben – stattdessen Literatur, Geschichte, selbständiges Denken und vor allen Dingen Musik. Das Fachgebiet des Grafen ist die Popkultur der 50er bis 80er Jahre. Es dürfte nicht leicht sein, jemanden zu finden, der mit den Kadavern jener Zeit besser vertraut ist als der albanisch-ukrainische Dandy, Sänger und Philosoph. Osipov genießt in Moskauer Bohemekreisen höchsten Respekt, seine Sendungen sind Legende, seine kürzlich erschienene Platte mit Coverversionen sowjetischer und italienischer Schlager der 70er Jahre ist die beste russische Pop-Platte seit Jahren und sein Engagement für die Wiederentdeckung alter Meister aus den 60er und 70er Jahren verdient einen Orden. Doch Orden sind des Grafen Sache nicht. Der Mann hat höhere Ziele.

Weltsicht durch den Vorhang

Grundlage für Osipovs Sendungen ist eine Weltsicht, für die amerikanische und sowjetische, französische und polnische, ost- und westdeutsche Kultur gleichwertig sind. So kommt es in der Schule der Kadaver immer und immer wieder zu den erstaunlichsten Kollisionen zwischen azerbaidzhanischen Psychedelica, polnischem Beat, amerikanischem Soul und Perlen der Odessaer Songwriting Schule. Doch vereinen sich all diese Untoten in Osipovs Show keineswegs zu einem One-World-Kitsch-Reigen. Hortiza ist kein sentimentaler Hippie, sondern ein radikaler Revisionist. Sein Ziel ist die Demontage jener falschen Vorstellungen vom Leben auf der jeweils anderen Seite des Eisernen Vorhangs, die der kalte Krieg und seine Sieger den Menschen aufgezwungen haben. Nicht mehr, nicht weniger. Dabei ist klar, dass zu den Siegern des kalten Krieges nicht nur Bush, Chirac und Schröder zählen, sondern auch ihre neuen Freunde in Moskau: die Ex-KGBler und Ex-Apparatchiks, denen Russland heute gehört. Natürlich predigt Osipov zu einer russischen Gemeinde, doch was hier gesagt wird, geht auch den Westen an.
Eines der erstaunlichsten Paradoxe des kalten Krieges bestand darin, dass die Menschen hinter dem Vorhang in der Regel wesentlich besser über das Leben auf der anderen Seite informiert waren als umgekehrt. Natürlich waren die Vorstellungen, die man in Moskau oder Leningrad z.B. über das westliche Showbusiness hatte, oft genug bizarr entstellt. Aber immerhin war man in Moskau seit Stalins Tod immer besser mit den Helden der westlichen Unterhaltungsmusik vertraut, egal ob die nun Miles Davis, Duke Ellington, Jimi Hendrix, Beatles oder Charles Aznavour hießen. Umgekehrt weiß im Westen bis heute kaum jemand irgendetwas über die sowjetische Popwelt. Wer hätte je von Mikael Tareverdiev, Edita Pecha, Arkadij Severnyj oder Kostja Beljaev gehört? Um nur ein paar Namen zu nennen, die es allesamt verdienen würden, auch in Europa oder den USA bekannt zu sein. Tareverdiev – ein Filmmusikomponist von der Statur und Bedeutung Ennio Morricones. Die Pecha – eine in Frankreich geborene Diva, die die Sowjetunion ab 1957 im Sturm eroberte. Severnyj – der vielleicht umwerfendste russische Chansonnier des Jahrhunderts. Schließlich Beljaev – ein Singer/Songwriter der Sonderklasse, der nicht zuletzt dank der unermüdlichen Propaganda von Graf Hortiza in Moskau gerade einen dritten Frühling erlebt.

Musik jenseits der Kolchosen

Auch in den 30er und 40er Jahren entsprach die Realität des sowjetischen Entertainment selten den Klischees von stalinistischer Marschmusik, donnernden Chören und humorloser Aufbaupropaganda. Selbst zur Hochzeit der Säuberungen 1936-38 dominierten die Bigbands von Leonid Utjosov, Alexandr Zfasman oder Viktor Knuschevitzkij die Tanzflächen Moskaus. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre jedoch wehte ein frischer Wind. Der auf dem Höhepunkt des kalten Krieges ab 1948 für kurze Zeit verbotene Jazz war zurück und die Texte handelten eindeutig nicht von der Arbeit in Kolchosen oder vom Bau eines Wasserkraftwerks. Anfang der 60er Jahre schrieb Tareverdiev ein Chanson für die wunderbare Maya Kristalinskaya, das die Atmosphäre und den Sound der Zeit auf den Punkt bringt. »U tebja taki glaza – Du hast so-o-o-lche Augen«, haucht die Kristalinskaya, und dann fährt sie fort, »als ob in jedem zwei Pupillen wären, wie bei den Scheinwerfern der allerneuesten Autos.« Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte im nächtlichen Moskau. Die Autos rauschen vorbei, wahrscheinlich geht man gleich in eine kühle Bar. Die Musik: leichter, flirrender Jazz, eine Melodie, auf die Serge Gainsbourg stolz gewesen sein könnte, und als Krönung: Maya Kristalinskayas tiefe, sexy Stimme.
Ab Mitte der 60er Jahre änderte sich das Klima im Lande wieder. Breschnew löste Chruschtschow ab. Es wurde schnell klar, dass sich die großen Hoffnungen auf eine Liberalisierung des Systems nicht erfüllen würden. Eine Rückkehr in die Stalinära blieb allerdings auch aus. Stattdessen richtete sich das Land in jener fatalen Lähmung ein, die letztlich in den Untergang führen sollte. Der Witz »Wir tun so, als ob wir arbeiten, und sie tun so, als ob sie uns bezahlen« sagt alles. Für Kunst und Musik bedeutete dies, dass man weitgehend tun und lassen konnte, was man wollte, solange man dem Staat nicht allzu sehr auf den dünnen Nerven herumtrampelte. Die westliche Propaganda teilte zu dieser Zeit das sowjetische Kulturleben in die schlechte, offizielle Kunst auf der einen und die gute, inoffizielle auf der anderen Seite. Es ist kein Zufall, dass die offizielle sowjetische Popmusik im Westen bis heute nahezu unbekannt blieb.

Fließende Grenzen

In Wahrheit waren die Grenzen fast überall fließend, in der Musik ebenso wie in der Literatur oder im Kino. Andrej Tarkowskij hatte natürlich Probleme, seine Filme gegen Bürokraten und Parteiidioten durchzuboxen. Doch wäre das in Hollywood anders gewesen? Ähnliches gilt für Mikael Tareverdiev, der sein Leben lang offiziell als Komponist arbeitete. Die andere Variante verkörperten Künstler wie Severnyj. Eines seiner Stücke beginnt mit den Worten »Es war in Rostov am Don als ich zum ersten Mal in den Knast geriet.« Lieder, die das Gaunertum verherrlichten, wurden von der sowjetischen Plattenfirma Melodiya natürlich nicht veröffentlicht. Doch sollte man das nicht überbewerten. In den 70er Jahren kamen bei Udo Jürgens Lieder mit solchen Zeilen auch nicht vor. Severnyjs Chansons verbreiteten sich unabhängig von staatlichen Kanälen. Sein Medium war die tausendfach kopierte Kassette. Doch auf diesen Tapes mischten sich offizielle und inoffizielle Kunst genauso wie in- und ausländische. Und genau diese Mischung blieb typisch für die sowjetische populäre Kultur bis zum Untergang des Landes in den späten 80er Jahren. Neben Alla Pugatschova oder Iosif Kobzon, die in den 70er und 80er Jahren Hunderte Millionen Schallplatten zwischen Brest und Wladiwostok verkauften, existierten Vladimir Vyssotskij und Arkadij Severnyj, deren Popularität derjenigen der offiziellen Stars wenig nachsteht. Beide Sphären gemeinsam machen die sowjetische Kultur jener Jahre aus. Keine der beiden ist ohne die jeweils andere vorstellbar.
Genau diese Grunderkenntnis macht Garik Osipovs Kadavergymnasium zu einer so exzellenten Bildungseinrichtung. Der Charme des Herrn Lehrers und seine vielseitige Bildung tun das ihrige. Selbst wenn man kein Russisch kann, der Sound der gräflichen Stimme und die Musikauswahl dieses exzentrischen Genies lohnen die Mühe! Wie immer im Leben kommt das Beste nämlich zuletzt: Die Schule der Kadaver nimmt auch Externe auf. Die Adresse: www.101.ru, Mittwoch 21:00 MEZ. Live.
Mehr Infos bietet: www.russia-in-us.com/Music.
Wer Platten kaufen will, tut dies am besten in Berlin: Russkoj Kultury, Torstraße, neben dem Café Burger.