Zauberwelt in Ossendorf: Jovan Nikolic in seinem Garten, Foto: Manfred Wegener

Nabelschnur in die Heimat

Das »Buch für die Stadt« kommt in diesem Jahr von Jovan Nikolic

Nein, eine solche Idylle erwartet man nicht in diesem Teil von Ossendorf, inmitten der Einkaufskomplexe, der Fernsehstudios und der weißen Bungalows, die aussehen wie die Autos, die davor stehen. Und doch gibt es sie: In Jovan Nikolic´s Garten stehen eine Holzbank und ein Tisch unter einem Apfelbaum. »Hier sitze ich und schreibe«, sagt er.

 

Die Idylle im Gewerbegebiet könnte als Analogie für die Rolle von Literatur in Nikolic´s Leben gelesen werden: »Die reale Welt war immer ein Alternativleben für mich. Das richtige Leben war das in der Literatur. Das war eine Zauberwelt, die ich früh für mich gefunden habe«, sagt Nikolic´. Eine erfolgreiche Zauberwelt: Sein Buch »Weißer Rabe, schwarzes Lamm« ist das diesjährige »Buch für die Stadt«, eine Aktion des Kölner Stadt-Anzeigers und des Literaturhauses. In der ersten Dezemberwoche wird die 1993 im Original und 2004 auf Deutsch erschienene Geschichten-Sammlung im Mittelpunkt von Veranstaltungen in und um Köln stehen.

 

Angefangen hat der 55-Jährige als kleiner Junge, mit einem Tagebuch. Eigentlich schreibt er noch immer Tagebuch, er schreibt sein Leben, seine Erinnerungen. Im Gegensatz zu Autoren, die ihre Existenz aus Mangel an Fantasie in Buchform packen, ist er ein Tagebuchschreiber mit Existenzberechtigung, denn schon sein Leben ist ein Roman. Die Mutter, eine Sängerin, gehört zur feinen Gesellschaft Belgrads, ehe sie seinen Vater, einen Roma, obendrein Musiker, Frauenheld, Kneipengänger kennen lernt. Nach der Heirat ziehen sie als Musiker durch das frühere Jugoslawien, bevor sie sich Ende der 60er in dem Dörfchen C?ac?ak niederlassen.

 

Die Miniaturen in »Weißer Rabe, schwarzes Lamm« sind Erinnerungen an diese Kindheit: der alkoholkranke Großvater, seine erste Liebe Milica, die allgegenwärtige Musik. Oft ist das komisch und amüsant, zugleich liegt ein Gefühl der Bedrückung darüber, der Armut, des nicht Dazugehörens. Bei den Gadsche, den Nicht-Roma, ist er ebenso Außenseiter wie bei den Roma, wo die Leseleidenschaft des Jungen auf wenig Begeisterung stößt. »Geh mit ihm zum Doktor, damit er gar nicht erst ins Phantasieren gerät«, raten die Verwandten der Großmutter in einer Geschichte. Dieses Gefühl der Fremdheit und die Suche nach der eigenen Identität seien auch heute noch da, im Exil, sagt Nikolic´: »Das ist ein Prozess bis ans Ende des Lebens.«

 

Nach der Schule und einem Studium der Maschinentechnik geht Nikolic´ nach Belgrad. In den 80ern schreibt er Theaterstücke, Prosa, Lyrik, ist Schauspieler, Rock-Sänger, Radio-Redakteur und befreundet mit dem Regisseur Emir Kusturica, für den er den Text zum Titelsong von »Schwarze Katze, weißer Kater« schreibt. Nach dem Nato-Bombardement Serbiens folgt er 1999 seiner Schwester nach Deutschland. Seit zehn Jahren ist Köln seine Wahlheimat.

 

Dass seine Leidenschaft der Lyrik gehört, merkt man. Nikolic´s Geschichten zeichnen meist ein einziges Bild: Der Vater mit einem halben Dutzend Hühner auf der Lenkstange, der kleine Junge vor dem Spiegel. »Das ist wie beim Film. Da ist eine Totale, von einem Chor meinetwegen. Und Kamera Nummer sechs hat einen Sänger eingefangen, der sich gerade kratzt. Das ist meine Kamera.« Nicht selten empfindet man das im ersten Moment als fast banal, als nebensächlich – um dann zu merken, dass sich das Bild eingebrannt hat. »Ich überlasse dem Leser das Weiß zwischen zwei Geschichten«, sagt Nikolic´.

 

Ein magischer Realismus im Marquezschen Sinne durchzieht Nikolic´s Werk, die Dinge sind nicht, was sie scheinen: Der Stock des Großvaters tanzt, der tote Vater blinzelt. In seinem 2011 erschienenen Buchs »Seelenfänger, lautlos lärmend«, erzählt Nikolic´, wie er einen Taxifahrer bezahlen will, in seine Wohnung läuft, das Geld holt – und dann aufwacht. Ausgetrickst von der Undurchlässigkeit zwischen Wirklichkeit und Traum.

 

Seine Roma-Herkunft spielt für ihn als Schriftsteller eine untergeordnete Rolle. »Ich bin Schriftsteller. Da ist kein Platz für Serbe oder Roma.« Fernab des Schreibens engagiert er sich bei Rom e.V. Mit dem Projekt »Roma-Kultur-Karawane« geht er an Schulen und Universitäten und bringt den Menschen Kultur und Leben der Roma näher, aus gutem Grund: »Ich habe bei meinen Lesungen gemerkt, dass die Menschen wirklich keine Ahnung haben von Roma.« Demnächst möchte er in Berlin weitere Mediatoren für die Karawane ausbilden.

 

Anfang November hat er zum ersten Mal seit seiner Emigration seine alte Heimat besucht. »Das war sehr emotional. Meine Leute dort haben mich nicht vergessen«, sagt er. Das gilt auch umgekehrt. In »Seelenfänger, lautlos lärmend« tauchen wieder Erinnerungen an die Kindheit auf: Wie er die Tante beim Waschen beobachtet, wie der Vater Saxofon spielt. »Dieser Familienzyklus schreibt sich immer weiter fort«, sagt Nikolic´ – auch wenn die Erinnerungen verblassen. »Die ganze Topographie meiner Kindheit ist mehr und mehr im Nebel«, sagt er. »In den ersten fünf Jahren habe ich jede Nacht von Serbien geträumt. Doch die Zeit kennt keine Gnade. Meine Sprache ist meine einzige Nabelschnur in die Heimat.«