Foto: Manfred Wegener

Wilde Mischung

Im zweiten Teil unserer Reihe »Goeiedag und Bonjour – StadtRevue unterwegs in Belgien« erlebt Christian Steigels Brüssel als Jugendstilperle, kreative Metropole und multikulturellen Mittelpunkt Belgiens

In Europa beginnt das Wochenende bereits am Donnerstagabend. Am Place du Luxembourg im Brüsseler EU-Viertel haben sich ein paar hundert Menschen unter den Schirmen und an den Heizpilzen der Bars versammelt. Dezente House-Musik tönt aus den Läden, die »Le Pullman« oder »Grapewine« heißen. Die Männer tragen Anzüge, die Frauen Kostüme, dazu trinken sie Bier oder Wein aus Plastikbechern und berichten sich mit ausladenden Gesten von ihrer Woche.

 

Derselbe Ort, zwei Tage später. Am Samstagnachmittag warten Taxifahrer auf Kundschaft, Küchenangestellte stehen draußen und rauchen. Die Bars sind geschlossen, die Straßen leer. Wie an fast jedem Wochenende gleicht das EU-Viertel einer Geisterstadt. Freitags fliegen fast alle Kommissionsmitglieder und die hier ansässigen Firmenmit-arbeiter in ihre Heimat. 

 

»Das EU-Viertel ist ein monofunktionales Ghetto«, sagt Martin Pigeon. Der gebürtige Franzose führt gemeinsam mit seinem Kollegen Olivier Hoedemanns gerade eine Gruppe junger Dänen herum. Es ist keine typische Stadtführung – »Lobby-Tour« nennt sich das Angebot der Nicht-Regierungs-Organisation Corporate Europe Observatory, für die Hoedemanns und Pigeon arbeiten. Neben der Bedeutung des Lobbyismus in der Europapolitik erfährt man viel über die Geschichte des Viertels. Und somit viel über die jüngere Geschichte Brüssels.

 

Das einstige Cartier Leopold, in dem haufenweise historische Bauten abgerissen wurden und alteingesessene Geschäfte weichen mussten, seit die belgische Hauptstadt 1958 Sitz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde, ist kein Einzelfall. Seit den 50er Jahren wurde in Brüssel im großen Stil abgerissen. Ähnlich wie in Köln baute man eine Nord-Süd-Achse, eine unterirdische Zugverbindung, die sich unbarmherzig durch die Stadt fräst und die Zerstörung historischer Bausubstanz nach sich zog. In den folgenden Jahrzehnten fiel dann vieles neoliberaler Stadtplanung zum Opfer: Vor allem in der Innenstadt wurden ganze Straßenabschnitte gekauft, die Häuser überließ man zunächst dem Verfall, um sie dann abzureißen und neue Bürokomplexe hochzuziehen.

 

Dieser Bauwahn, der den unter Architekten weithin verwandten Begriff der »Brüsselisierung« prägte, und der entstehende Eklektizismus geben der belgischen Hauptstadt ihr Gesicht - und eine ebenso extreme wie charmante Urbanität, meint Marieke Mathys. »Es ist nicht immer schön, aber wir mögen es«, sagt die 31-Jährige, die in einer alternativen Touristen-Information für junge Menschen arbeitet. Mathys wuchs in den vergleichsweise pittoresken Brügge und Gent auf und lebt seit drei Jahren in der Hauptstadt. »Dieser ständige Mix zwischen Altem und Neuem. Und zwischen scheinbar Gegensätzlichem. An der Rue Royale steht das größte besetzte Haus der Stadt, an der selben Straße ist der Königspalast. Verrückt, oder?«

 

In der Tat sind die Gegensätze augenfällig. Den funktionalen Bürobauten der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hält die Innenstadt eine Fülle historischer Gebäuden entgegen. Neben den großen Magneten, dem Unesco-geschützten Grand Place mit seinem unwirklich erscheinenden Ensemble aus gotischem Rathaus und barocken Zunfthäusern, der eklektizistischen Börse am Boulevard Anspach, dem Kunstberg mit seinen Palästen und Museen oder dem Königspalast bilden auch die vielen Jugendstil-Häuser einen spannenden Kontrast. Man findet sie vor allem in den einstigen Vororten Ixelles, St. Gilles oder Schaerbeek. Um das architektonische Erbe von Victor Horta, Henry van de Felde und Kollegen kümmert sich heute die Organisation Arau, die neben regelmäßigen Führungen alle zwei Jahre ein Festival veranstaltet, bei dem sich die Türen von ansonsten für Besucher unzugänglichen Häusern öffnen. 

 

Die wilde Mischung auf engstem Raum zeigt sich nicht nur architektonisch. Kommt man am Bahnhof Nord an, ist entscheidend, auf welcher Seite man den zweitgrößten der drei Bahnhöfe verlässt. Der Ausgang »Bolivar« führt nach Manhattan, ins Bankenviertel der Stadt. Über den Ausgang »Aarschot« landet man mitten im Rotlichtbezirk. Hier sitzen schon tagsüber Frauen in den Schaufenstern. Parallel dazu auf der Rue de Brabant fühlt man sich nach Casablanca oder Algier versetzt: Arabische Kleidung wird verkauft, Hijabs, Kinderbücher über den Koran, Satellitenschüsseln, Tajins und marrokanische Pantoffeln. Oder in Matonge, gleich neben dem EU-Viertel, wo die schwarzafrikanische Gemeinschaft zu Hause ist. Die Gemüseläden haben Maniok und Kochbananen in den Auslagen, die Restaurants heißen Cap Africa oder Afrique Soleil. Die Vermischung der benachbarten Welten ist montags im »Hor-loge du Sud« zu beobachten, wenn sich die Grünen aus dem EU-Parlament zum Stammtisch bei senegalesischem Essen treffen.

 

Dieser internationale Charakter macht Brüssel zu einem besonderen Ort in Belgien. Die vorwiegend französischsprachige Enklave inmitten der Region Flandern, ist die einzige zweisprachige Stadt in Belgien, mit flämischen und wallonischen Straßennamen. Durch EU, Nato und Co. spielt zudem Englisch eine erhebliche Rolle. Hinzu kommen die vielen Migranten, die ihre Kultur und Sprache einbringen. Diese Mehrsprachigkeit wirke entspannend, meint Hans la Croix. Der Elektriker wuchs in einem sehr nationalistischen Umfeld in Flandern auf. Seit fast 15 Jahren wohnt er hier und empfindet sich mehr als Brüsseler denn als Belgier. »Es fühlt sich an wie ein anderes Land in meinem Land. In Flandern sind viele Menschen stolz, Flamen zu sein, in Wallonien Wallonen. In Brüssel spielt Patriotismus keine wirkliche Rolle.«

 

Kein Wunder, dass das internationale Flair junge Kreative anlockt. Neben Künstlern oder Studenten aus Frankreich, die sich das Leben in Paris nicht leisten können und daher in die günstigere Metropole ziehen, seien Menschen von überall dabei, sagt Matthys. Das kulturelle Angebot ist groß. Neben den renommierten Häusern wie dem Centre of Beaux Arts, dem 2009 eröffneten Magritte-Museum oder natürlich dem Comic-Museum in der Innenstadt gibt es eine lebendige freie Szene. So hat sich die Rue du Laeken zu einem wichtigen Ort für die junge Design-Szene entwickelt, Ateliers und Galerien reihen sich aneinander. Nach Feierabend treffen sich Künstler und Aktivisten im selbst verwalteten Kulturzentrum Recyclart. Hier, unter dem Bahnhof Chapelle, finden inmitten einer großflächigen Street-Art-Landschaft Konzerte, Ausstellun-gen und Electronic-Partys statt. Und im Sommer sitzt man im Stadtteil St. Gilles, den Charles Picqué, Ministerpräsident der Region Brüssel, zum Montmartre Brüssels machen möch-te, in einem der zahlreichen Straßencafés.

 

Bleibt noch jene Sehenswürdigkeit, die in keinem Text über Brüssel fehlen darf: das Atomium, futuristisches Wahrzeichen der Expo 1958. Unweit der königlichen Gewachshäuser in Laeken, die einmal im Jahr für zwei Wochen öffnen, und nahe dem früheren Heysel-Stadion, in dem es 1985 zu einer der größten Katastrophen der Fußballgeschichte mit 39 Toten kam, steht dieses 102 Meter hohe Modell eines Eisenmoleküls. Hier läuft alles zusammen: der Beginn von Brüssel als EU-Hauptstadt, die Vergangenheit Belgiens in der Stahlverarbeitung, die Hoffnung Europas auf Atomkraft. Die Rolltreppen in den rot ausgeleuchteten Röhren erinnern an »Raumschiff Orion« oder bestenfalls »2001 – Odysee im Weltraum«, und man spürt noch die gespens-tische Euphorie der 50er Jahre.

 

Der Traum von der Atomkraft ist in Belgien vermutlich ausgeträumt, zumindest verkündete das die designierte Regierung im Oktober. Das alte Plädoyer für die vermeintliche Technologie der Zukunft bleibt: Von einem Abriss des ursprünglich nur für sechs Monate geplanten Baus ist seit der Renovierung 2006 keine Rede mehr. Im Gegenteil: Seit die alte Aluminiumhülle durch Edelstahl ersetzt wurde, strahlt das Atomium heller als damals zur Eröffnung.