Foto: Manfred Wegener

Almanya forever!

Ali Basar saß 1961 im zweiten Zug von Istanbul nach Deutschland. Ursprünglich wollte er zwei Jahre bleiben, daraus wurde der Rest des Lebens. Sein Sohn ist Lehrer, die Enkel wachsen dreisprachig auf. Anja Albert hat die Familie in Köln und Duisburg besucht.

Eine zerknitterte Visitenkarte hat das Leben von Ali Basar im Oktober 1961 verändert. Er bekommt sie von einem Freund zugesteckt, darauf steht die Adresse der deutschen Verbindungsstelle in Istanbul, einer Zweigstelle der Bundesanstalt für Arbeit. »Sivan  sagte mir: Ali, du musst nach Almanya gehen, da gibt es Arbeit! Und da bin ich sofort losgerannt, aber wie! Die Karte hielt ich fest in der Hand als wäre sie ein Schatz«, erzählt Ali Basar. Der 79-Jährige lacht sein lautes, schepperndes Lachen und blickt aus dem Fenster seiner Wohnung in Duisburg-Marxloh. 

 

In der Verbindungsstelle, die 1961 gerade erst eröffnet hat, ist der damals 29-Jährige einer der ersten, der sich vorstellt. Dort entscheiden deutsche Beamte, wer ein Ticket in ein neues Leben erhält.  Bereits Anfang November sitzt Ali Basar im zweiten Zug, der den Bahnhof Istanbul-Sirkeci Richtung München verlässt, siebzig Stunden dauert die Reise. Seinen Holzkoffer hält er die ganze Zeit in der Hand. Darin sein Arbeitsvertrag, ausgestellt auf zwei Jahre, ein paar alte Fotos, Kleidung. Mehr Dinge hatte er nicht, und brauchte er auch nicht, wie er sagt. Denn er hatte seinen »türkischen Traum« vom Leben in Deutschland: »Ich wollte viel Geld sparen, ein Auto kaufen, später ein Haus in der Türkei und dort dann vielleicht ein Geschäft aufmachen.« Aber es kommt anders. 

 

Ungefähr zur selben Zeit, am 30. Oktober 1961, gibt es ein weiteres Schriftstück, das die Geschichte von Millionen Menschen miteinander verbindet. Ein Abkommen, drei Seiten lang, zwischen dem Auswärtigen Amt und der türkischen Botschaft, das die Anwerbung von Arbeitern aus der Türkei regelt. Ein nüchterner Briefwechsel, der noch nicht die späteren Debatten um »Kopftuchmädchen« oder die Kölner Moschee erahnen lässt.

 

Dreieinhalb Jahrzehnte arbeitet Basar für deutsche Unternehmen: auf dem Bau, am Hochofen, unter Tage. Stellenweise hat er parallel zwei Jobs, malocht bis zu 15 Stunden täglich. Im Bergwerk ist er der »Kumpel Ali«. Seit Ende der 60er Jahre ist er Gewerkschaftsmitglied, in den 80er Jahren tritt er in die SPD ein. Bei einer Parteiveranstaltung hat ihm Johannes Rau auf die Schultern geklopft und zu seinen Kindern gratuliert: »Du bist ein glücklicher Vater, hat er zu mir gesagt.«

 

Noch heute ist Ali Basar stolz auf das Zusammentreffen. Vom Sofa seiner Wohnung aus schaut er auf die Schlote der ThyssenKrupp AG, die in den Himmel ragen. In einem der Werke hat er seine letzten Arbeitsjahre verbracht, als Schweißer am Hochofen. »Es ist schön, auf die alte Arbeitsstätte zu schauen. Ja sicher!«, ruft er. Es ist eines seiner Lieblingswörter. Er habe sich selten ausgegrenzt gefühlt. Nur eine Episode beschäftigt ihn noch immer. »Ey, Türke, komm mal her. Mach mal fertig, du bist mein Sklave«, habe ihm sein Kollege Charly einmal zugerufen. Zu Hause schaut er ins Wörterbuch: »Das war ein Schock! Ich war total empört!«, erinnert sich Ali Basar. Am nächsten Tag beschwert er sich beim Kolonnenführer, der Charly mit Entlassung droht.

 

Das Erste, was Ali Basar im November 1961 von Deutschland sieht, ist ein ehemaliger Luftschutzbunker unterm Münchner Hauptbahnhof, die sogenannte Weiterleitungsstelle. Dort erfahren die »Gastarbeiter«, wo sie zukünftig arbeiten sollen. Im Bunker gibt es Frühstück: Brot, Salami, Würstchen. »Wir rührten es nicht an, weil wir  dachten, es sei Schweinefleisch. Da machten die Beamten ›Muh!‹, das war für uns die Entwarnung.«  Basar stammt aus der ostanatolischen Provinz Tunceli, die er nur bei ihrem alten kurdischen Namen nennt: Dersim. Als ältester Sohn, der Vater ist früh gestorben, musste er für seine fünf Geschwister und seine Mutter sorgen. Als 13-Jähriger ging er nach Istanbul und schlug sich als Gepäckträger durch. 

 

Im Sommer 1964 reist er das erste Mal zurück in seine Heimat. »Ich sagte zu meinem Chef: Patron! Ich will heiraten. Und bekam vier Wochen Urlaub.« In diesem Jahr hebt die Bundesregierung das sogenannte Rotationsprinzip auf, wonach ein türkischer Arbeiter maximal zwei Jahre in Deutschland bleiben darf. Als er laut hupend mit seinem neuen nachtblauen Opel Kapitän die staubige Dorfstraße entlangfährt, merkt er, dass er seiner Heimat fremder wird. »Die meisten hatten noch nie in einem Auto gesessen. Meine Kumpels sagten ›Ali Bey‹ zu mir, das heißt Herr Ali. Ich rief empört: Ich bin’s doch, euer Ali! Und ich bin Arbeiter!«, erzählt er und seine weißen Augenbrauen schnellen nach oben.  Sein Bruder hat eine Liste mit unverheirateten Frauen gemacht. »So lang war sie«, sagt Ali Basar und reißt die Arme weit auseinander. Zehn Tage später hat er seine Frau Gülten geheiratet und sie sind gemeinsam zurück ins Ruhrgebiet gegangen. »Ich habe gar nicht realisiert, was passiert. Von Deutschland hatte ich keine Vorstellung. Aber ich war verliebt«, sagt die 70-Jährige. 

 

Gülten Basar sitzt neben ihrem Ehemann auf dem Sofa. Man kann sich die Frau mit den feinen Gesichtszügen und den großen Augen gut als junges Mädchen vorstellen, das mutig in eine ungewisse Zukunft aufbricht. »Es war nicht immer einfach. Ich war die erste türkischstämmige Frau in Duisburg. Sonst gab es hier nur Männer«, sagt sie und kichert. Auch sie hat sich durchgekämpft. Gegen die Ressentiments der türkischen Männer, die ihre Familien oft erst Anfang der 70er Jahre nachholten. Gegen die anfänglichen Vorbehalte der deutschen Nachbarinnen. Auch heute noch muss sie manchmal gegen Vorurteile ihrer langjährigen türkischen Freundinnen ankämpfen, die es nicht gut finden, dass sie kein Kopftuch trägt und nicht in die Moschee kommt.

 

Mitte der 60er Jahre gibt es kein türkisches Café, keinen türkischen Gemüsehändler, keinen Döner-Imbiss in Duisburg-Marxloh. »Heute unvorstellbar. Was sollte ich kochen? Keine Zucchini oder Aubergine weit und breit.« Mit ihrer Nachbarin, die sie Abla nennt, was große Schwester bedeutet, geht sie einkaufen, das Wörterbuch in der Hand. Zuerst trinkt Gülten Basar Tee, irgendwann schmeckt ihr auch der Kaffee. Anfangs benutzt sie beim Kochen zwei Pfannen, eine ausschließlich für Schweinefleisch, was die Kinder gerne essen. Irgendwann wird ihr das zu kompliziert. Und so wurde Duisburg, fast beiläufig, zur Heimat. 

 

Die Basars haben früh erkannt, dass sie in Deutschland bleiben werden. Spätestens mit dem Militärputsch 1980 in der Türkei ist Gülten Basar klar: »Wir wollen nicht in ein Land zurück, dessen Sprache wir zwar sprechen, wo wir aber nicht wir selbst sein können.« Die Basars sind eine dreifache Minderheit: Sie sind Kurden, Aleviten und in Deutschland Zugewanderte. Als die Bundesregierung Anfang der 80er Jahre den »Rückkehrern« Prämien zahlt, gehen ihre Töchter schon aufs Gymnasium. Ihr Sohn Cahit absolviert damals gerade seinen Hauptschulabschluss mit Auszeichnung, ein paar Jahre später folgen Abitur und Uni.

 

Cahit heißt auf Türkisch der Fleißige. Er sitzt in der Küche seines Reihenhauses in Porz, es gibt Börek, das seine spanischstämmige Frau gebacken hat. In Bildungs- und Erziehungsfragen waren seine Eltern streng, erinnert er sich. Denn ihre Kinder sollten die Bildung bekommen, die sie sich immer gewünscht hätten. Die ersten zwei Jahre geht Cahit in eine rein türkische Grundschulklasse, die von einem türkischen Lehrer unterrichtet wurde. Nach zwei Jahren haben die Basars ihren Sohn in eine deutsche Regelklasse eingeschult. Damals hat er seinen Eltern den Schulwechsel übel genommen, heute ist der 45-Jährige ihnen dafür dankbar. Die meisten seiner damaligen Freunde seien nach der Grundschule wegen Sprachdefiziten direkt auf die Sonderschule gekommen. 

 

Cahit Basar studierte in Münster, England und den USA neuere Geschichte, Politikwissenschaften und Germanistik, seit einigen Jahren ist er Lehrer an einem Gymnasium in Porz. Anders als seine Eltern sucht er keine neue Heimat, er hat ja eine. Er weiß, dass die Probleme der zweiten Generation andere sind. Als er von einem Lehrerkollegen ernsthaft gefragt wurde, ob er die türkische Reinigungskraft kenne, habe er nur geschmunzelt. »Er hat es nicht böse gemeint. Du denkst, du bist einer von ihnen und dann gehört man doch nicht richtig dazu«, betont Cahit Basar, der ohne den Hauch eines Ruhrpottakzents spricht. 

 

Er geht ins Wohnzimmer und deutet auf die Fotos, die auf dem Sideboard stehen: Seine Frau Natividad, Tochter einer spanischen Gastarbeiterfamilie, die zwei Kinder, drei und acht Jahre, die dreisprachig erzogen werden: Deutsch, Spanisch und Türkisch. Auf dem Foto daneben seine beiden Schwestern, ein irischer, ein deutscher Schwager. »Meine Familie ist das Ergebnis diverser Anwerberabkommen, die die BRD mit verschiedenen Ländern getroffen hat. Ohne die eurpaweite Arbeitsmigration würde es uns so nicht geben.«