Wie man aus der Zeit fällt

Das Klangforum Wien gastiert mit einem eigentümlichen

Spektakel in der Philharmonie

Das Wiener Konzerthaus ist eines dieser schweren, wuchtigen Gründerzeitgebäude, die sich entlang des hauptstädtischen Rings finden. Nicht so wuchtig wie das Burgtheater, aber in seiner anachronistischen Monumentalität beeindruckender als alles, was sich in Köln findet. Wer nicht in Wien lebt, für den wird der Besuch des Konzerthauses zur Zeitreise. Ein Eindruck, der sich durch die Oskar-Serti-Installation noch verstärkt.

 

Oskar Serti war Anfang November im Konzerthaus eine große Performance gewidmet, ein Spektakel der Neuen Musik, das auch für geübte Kölner Ohren ungewöhnlich klingt und am 28. Dezember in der Kölner Philharmonie (einem Gebäude, das gegensätzlicher als das Konzerthaus nicht sein könnte) wiederholt wird. Serti gilt als der bedeutendste ungarische Schriftsteller an der Wende zum 20. Jahrhundert, zudem als manischer Musikliebhaber, der bereit war, für seine Leidenschaft alles zu opfern. Außerdem … aber nein, spielen wir das Spiel nicht weiter mit: Oskar Serti ist eine Fiktion des belgischen Künstlers, Schriftstellers, Performers Patrick Corillon. »Oskar Serti geht ins Konzert. Warum?«, so der vollständige Titel seiner siebenteiligen, nachmittag- und abendfüllenden theatralen Performance, liefert den Rahmen für einen großen Konzertzyklus des Wiener Klangforums. 

 

Wenn die Kölner musikFabrik innerhalb der Neuen-Musik-Szene den Status Bayern Münchens innehat, dann das Klang-forum den Real Madrids. Es schwelgt in Perfektion, Virtuosität und Präzision. Und ist aus diesen Gründen nicht nur bei einem Avantgardekenner-Publikum sehr beliebt: Denn das Ensemble spielt Neue Musik als Spektakel, als sinnenfrohes Feuerwerk. 

 

Zeitgenössische Komponisten beliefern dementsprechend das Forum mit saftigen Stücken: Eine der Kompositionen, die man während der Oskar-Serti-Performance zu hören bekommt, ist Franco Donatonis »Hot«, eine atonale, radikal strukturalistische Rekonstruktion eines typischen Jazzstücks aus New Orleans. »Hot« swingt höllisch, klingt aber gleichzeitig eckig, merkwürdig fragmentiert und zerstückelt, Vergangenheit und Zukunft werden miteinander kurzgeschlossen – ein sehr eigenartiger Clash, der einen mit offenem Mund zurücklässt. Oder Bernhard Langs »Differenz/Wiederholung 2«, das den Abschluss des Abends bildet: Der Wiener Komponist liebt die Clubkultur, sammelte jahrelang Erfahrungen als Improvisator innerhalb der elektronischen Musikszene. »Differenz/Wiederholung 2« überträgt die Mixkünste des DJs, das Sratchen von Vinyl, die digitalen Aussetzer, das Rumpeln und Stottern defekter CDs auf ein großes Ensemble und assoziiert dazu u.a. kurdische Volksmusik, afroamerikanischen Rap und medientheoretische Texte William S. Burroughs. Das ist rabiater Eklektizismus, aber gleichzeitig so detailverliebt, so wuchtig inszeniert, dass man den Eindruck hat, jetzt erst erfasse man das klanglich-dekonstruktive Potenzial, das in der DJ-Kultur steckt. Die Techno-Klassik-Minimal-Experimente von Francesco Tristano oder Brandt Brauer Frick wirken dagegen allenfalls niedlich.

 

Aber da ist ja noch Oskar Serti. Und der wird das Kölner Publikum auf eine harte Probe stellen. Corillon legt die (Musik-)Geschichten aus dem Leben Sertis extrem manieristisch an: Die Bühnenbilder, die auch in der Kölner Philharmonie im ganzen Gebäude verteilt sein werden, sind so aufwändig wie auch trashig. Die Klangforumsmitglieder, die in diesen Bühnenbildern Anekdoten aus dem Leben Sertis erzählen, sind – das soll ganz bewusst so sein – keine Schauspielprofis, sondern  dilettieren mit großem Pathos. Schließlich die Anekdoten selbst: Sie vermitteln das Bild eines Neurotikers – nicht tragisch ernst, sondern befremdlich kumpelhaft –, der sich andauernd selbst im Wege steht und vor Leidenschaft gar nicht zum Musikhören kommt. Selbstironisch weist das Programm diese Zwischenspiele als »Pausengeschwätz« aus.

 

Man macht eine ambivalente Erfahrung: Neue Musik auf diese Weise ist zu präsentieren, das kennt man in Köln nicht, hier arbeitet man sich immer noch eisern an den Säulenheiligen Stockhausen, Kagel und – mit Abstrichen – Bernd Alois Zimmermann ab. Natürlich ist die Oskar-Serti-Installation in sich schlüssig, verwirrend, erheiternd, aber sie wirkt völlig aus der Zeit gefallen (als würde Real Madrid plötzlich wieder mit Libero und Manndeckern spielen).

 

Aber es gibt einen Moment, da kommt dieser merkwürdige, verrückte Abend zu sich selbst: Der junge Wiener Komponist Gerald Resch hat das Schlüsselstück des Abends komponiert. In »collection serti« steigen die Musiker paarweise in Vitrinen, in denen Oskar Sertis Devotionalien ausgestellt sind, und fangen inmitten  des umher wandelnden Publikums an zu spielen – ohne Dirigent, ohne unmittelbaren Kontakt untereinander. Aus den einzelnen musikalischen – aber auch real räumlichen! – Zellen ergibt sich durch Verschränkung und Überlagerung mehr und mehr eine Gesamtkomposition, die schließlich das gesamte Gebäude erfüllt. Man kann, wenn man so will, hier die Aufhebung einzelner, höchst idiosynkratischer Erkenntnisweisen zu einer geglückten, weltbejahenden Leidenschaft in Echtzeit beobachten. Auch das ist virtuos, manieriert und enorm anspruchsvoll – aber im Gelingen der Komposition spielen diese Attribute schlagartig keine Rolle mehr. Am Ende ist Oskar Serti doch noch zu seiner Musik gelangt.