Inge Strieck und Frank Deja von »Köln kann auch anders« vor dem Schauspielhaus, Foto: Manfred Wegener

Repräsentativer Zufall

Die Bürger wollen stärker an politischen Entscheidungen mitwirken. Hans-Christoph Zimmerman hat mit Hans J. Lietzmann gesprochen. Er leitet die Forschungsstelle »Bürgerbeteiligung« an der bergischen Universität Wuppertal

StadtRevue: Herr Lietzmann, worin liegen die Gründe, dass Bürgerbeteiligung gerade boomt?

 

Hans J. Lietzmann: Die Gestaltungskraft der repräsentativen Gremien ist geringer geworden. Sie haben nicht mehr die Durchsetzungsmacht, die von ihnen selbst behauptet wird und die wir von ihnen erwarten. Außerdem fällen wir immer mehr Entscheidungen, die nicht vom Wis­sen, sondern von einer Risikoeinschätzung ab­hän­gen. Wir wissen nicht genau, wie sich ein öffentliches Nahverkehrskonzept oder der Neu­bau eines Einkaufszentrums auswirken. Es ist notwendig, dass man den Bürgern die Bedingungen und Risiken benennt. Drittens verfügen die Bürger über mehr Informationsquellen und sind gebildeter als in vergangenen Zeiten. 1970 haben zehn Prozent Abitur gemacht, heute sind es fünfzig Prozent, dazu kommt das duale Bildungssystem. Da wirkt es bei bestimmten Fragen paradox, wenn den Bürgern die Kompetenz abgesprochen wird zugunsten des Parlaments.


Oft wird doch gerade die Komplexität einer Entscheidung als Argument gegen Bürgerbeteiligung benutzt?

 

Die Bürger verfügen über die nötige Kompetenz, wie man bei Dutzenden von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden zum Beispiel gegen das Crossborder Leasing gesehen hat. Die Stadträte haben behauptet, die Bürger hätten keine Ahnung und deshalb müsse die Politik das alleine entscheiden. Jetzt zeigt sich, dass ganz im Gegenteil Politik und Verwaltung zu wenig Ahnung davon hatten und die Städte nun Milliarden dafür aufbringen müssen.

 

Gibt es einen grundsätzlichen Substanzverlust der Demokratie?

 

Ein Substanzverlust zeigt sich darin, dass immer häufiger private Akteure wie Investoren, Anleger oder Firmen mit großer Gestaltungs- und finanzieller Erpressungsmacht in die politischen Institutionen eingreifen. Wenn ein Investor sagt, er möchte ein Einkaufszentrum bauen, dann bestimmt er oft, wie und wo und nach welchen Kriterien das passiert. Und wenn die Stadt nicht mitmacht, geht er einen Ort weiter. Die Gemeinderäte und die Bürgermeis­ter sind dieser Macht weitgehend ausgeliefert. Als Nebeneffekt zeigt sich, dass die Investoren immer weniger kompromissbereit sind.

 

Zahlreiche Politikfelder wie etwa die Verkehrs­planung sind von der Bürgerbeteiligung ausgeschlossen. Muss sich daran etwas ändern? Oder liegt darin nicht auch ein Risiko?

 

Die Bauleitplanung, Verkehrsplanung und Um­weltplanung oder der Haushalt sehen in Deutschland rechtlich nicht vor, dass die Bürger beteiligt, sondern allenfalls informiert werden. Daran muss sich unbedingt etwas ändern. Warum aber Bürger nicht über den Haushalt mitentscheiden? Schließlich öffnet sich hier auch die Schleuse für zahlreiche Manipulationen: Die Verwaltung verlangt vom Bürger, wenn er einen Vorschlag mit Folgen für den Haushalt macht, einen Gegenfinanzierungsvor­schlag, häufig oh­ne ihm die notwendigen Unterlagen zur Verfü­gung zu stellen. Natürlich ist Bürgerbeteiligung auch riskant. Bürger können spinnen, auch in ihrer Mehrheit. Doch die Beschlüsse der Bürgerbeteiligung unterliegen ja wie die Beschlüs­se des Parlaments einer juris­tischen Aufsicht. Wenn sie also fehlerhaft wären oder Minderheiten in ihren Rechten beschneiden würden, dann werden sie auch wieder aufgehoben.

 

Welche Formen der Partizipation lassen sich ­unterscheiden?

 

Man muss zwischen direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung unterscheiden. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind Abstimmungsverfahren und zählen zur direkten Demokratie. Bürgerbeteiligung dagegen heißt, dass Bürger in irgendeiner Form an Planungsprozessen beteiligt werden. Das können Bürgerversammlungen sein, die informieren. Das können Zukunftswerkstätten sein, die eine Vision entwerfen, wie unsere Stadt in Zukunft aussehen soll, also zum Beispiel Leitbild-Diskussionen. Dann gibt es Citizenjuries oder Pla­nungszellen. Wichtig ist heute aber vor allem eine entscheidungsrelevante Beteiligung.

 

Welches Verfahren der Bürgerbeteiligung favorisieren Sie?

 

Die Universität Wuppertal führt seit den 1970er Jahren so genannte Planungszellen durch. Vergangenes Jahr hat die Stadt Aachen ihr neues Müllkonzept mit den Bürgern über vier Tage beraten. Die Bürger wurden über das Einwohnermeldeamt per Zufallsverfahren repräsentativ ausgewählt. Die Verwaltung hat ihre Pläne vorgestellt. Wir haben 15 Experten dazu eingeladen, die kontrovers mitgeteilt haben, was sie von dem Konzept halten. Am Schluss gab es ein Bürgergutachten, das die Stadt Aachen fast eins zu eins umgesetzt hat. Wichtig ist, dass bei der Bürgerbeteiligung auch Entscheidungen im Planungsprozess beschlossen werden können. Wichtig ist außerdem, dass die Verfahren von Anfang an ergeb­nis­offen sind. Auch die Nulloption muss möglich sein. Heute haben wir häufig Verfahren, bei denen die Verwaltung, oft zusammen mit ei­nem Investor, eine wasserdichte Planung macht und sie dann erst den Bürgern vorlegt. Es geht dann meist nur noch darum, ob das Kohlekraftwerk grün oder gelb gestrichen wird.

 

Wie lässt sich verhindern, dass immer die Gleichen mitmachen?

 

Ich würde die Bürgerbeteiligung nicht an die Freiwilligkeit knüpfen. Wenn sie freiwillig ist, kommt in der Regel der Mittelstand, der sich traut, sich zu äußern und seine Interessen zu verteidigen. Durch eine repräsentative Zufallsauswahl lässt sich das anders gestalten und funktioniert deshalb auch bei einem Bürgerhaushalt. Wenn man den Bürgern Verantwortung gibt, entscheiden sie auch verantwortungsvoll und nicht nach Stammtischparolen. Das ist eine tragende Erfahrung. Die Bürger sind soweit, dass sie mitentscheiden wollen und auch können. Dafür haben wir momentan allerdings keine Institutionen.

 

Sollte die Bürgerbeteiligung institutionalisiert werden?

 

Es wäre gut, wenn man die Beteiligung der Bür­ger zur Regel macht. Dann verliert sie ihren Aus­nahmecharakter und wird Teil der Gewaltentei­lung in den Kommunen und den Ländern. Es ist wichtig, sie institutionell und juris­tisch als Möglichkeit zu installieren, damit sie nicht vom Großmut der üblichen Institutio­nen abhängen. Dann wird sich auch herausstellen, dass die Bür­ger gar nicht bei jeder Frage mitent­scheiden wollen. Bei den Bürgerbeteiligungsverfahren und den Bürgerentscheiden haben wir ein jähr­liches Wachstum von annähernd zehn Prozent. Wir sehen eine kontinuierliche Steigerung, in den Städten mehr als in den Flächen­ländern. Spitzenreiter ist Bayern, weil da die recht­liche Regelung am einfachsten ist für die Bürger.

 

Hat Repräsentativität nicht letztlich auch etwas Entlastendes?

 

Repräsentation ist wichtig und wird nicht überflüssig durch Bürgerbeteiligung. Sie hat durchaus etwas Entlastendes, aber ich will ja nicht immer entlastet werden. Wir haben die Möglichkeit, uns zu entscheiden, und ganz oft unterliegen wir auch dem Zwang,  uns entscheiden zu müssen. Darin liegt eine Anstrengung und eine Herausforderung, aber zugleich auch eine große Chance.