Teufels Werk

Ein brillant inszeniertes Werk wider die Aufklärung? Mit Faust schließt Alexander Sokurow seine Tetralogie über die Macht ab

Neben Terrence Malicks »The Tree of Life« war Alexander Sokurows »Faust« der meist erwartete Film der letzten zwei Jahre – zumindest unter Cinephilen. Sicher auch weil bis zu seiner Weltpremiere in Venedig im September niemand wusste, was er sich unter dem Film vorstellen sollte. Was man von Sokurow einzig zu hören bekam, war: Es sei das Schlussstück seiner Tetralogie über die Macht und keine Adaption von Goethes »Faust«, auch wenn er sich auf diesen beziehe und nicht auf andere Bearbeiter des Stoffes, wie etwa Christopher Marlowe und Charles Gounod.

 

Dem deutschen Kinogänger dürfte der Verweis auf die Tetralogie wenig sagen, da nur deren Eröffnungswerk hier einen Verleih fand. »Moloch« (1999), »Telets« (2000) und »Die Sonne« (2005) sind bizarre Fantasien, Spekulationen über Hitler, Lenin und Stalin und den japanischen Kaiser Hirohito: »Moloch« zeigt einen mal hysterischen, mal grummeligen Führer des deutschen Volkes beim Entspannen auf dem Berghof, »Telets« das langsame Sterben des Vaters der sowjetischen Revolution auf dem Lande und seine letzten Gespräche mit seinem Nachfolger, »Die Sonne« den Tenno kurz vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, versunken meist in biologische Experimente. Keiner der Filme hat sonderlich viel mit historischen Fakten zu tun. Es sind eher romantisch-perverse Variationen der Bilder, die man sich in der Geschichte von diesen Menschen gemacht hat. Sokurow verfilmt Populärmythologien auf seine Art, was oft genug bedeutet: Er stellt die Dinge auf den Kopf, betrachtet sie durch einen Zerrspiegel.

 

Entsprechend geht er auch an »Faust« heran. Der nach dem Wissen darum, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, strebende Wissenschaftler trifft auf ... Ja, auf wen eigentlich? Das ist eine der interessantesten und wichtigsten Fragen des Films. Man kann nicht ohne Weiteres sagen: Faust trifft auf Mephisto. Es gibt eine Gestalt, die der Mephistos entspricht, jedoch ganz anders als gewohnt angelegt ist. Dieser Mephisto ist ein hutzeliger Wucherer östlicher Herkunft (man kann und sollte das dubios finden), der in Kirchen kackt, sich immer wieder über das Zerren seiner Flügel beschwert, geschlechtslos ist, aber einen dünnen, labbrigen Schwanz als Sterz hat. Von seiner Anlage als Engel her steht die Figur Luzifer (lat.: »Lichtträger«) näher als Goethes der Dunkelheit zugewandtem Mephisto.

 

Gretchen spielt eine vergleichsweise kleine Rolle, eine umso größere Fausts Assistent Wagner. Eigen ist eine unterschwellige Verbindung, die Sokurow zwischen dem Wucherer und Gretchen zieht: Beide sind rothaarig. Er hat einen struppigen Schopf in der Farbe schwachen Tees, sie eine flammende Woge von Kupfer auf dem Kopf. Wird so eine alte Verwandtschaft der beiden angedeutet, äußerlich als Verführer, innerlich als Verkörperungen des E-le-mentar-Irdi-schen? Sokurow zeigt Gretchen einmal so, dass man an Gustave Courbets berühmtes Skandalgemälde »Der Ursprung der Welt« denken muss.

 

»Faust« spielt in einem Biedermeierdeutschland aus Scheiße und Schlamm, einem Morast aus engen Gassen und geduckten Häusern. Faust will diese Fäulnis überwinden, der Wucherer fühlt sich offenbar wohl darin. Die »Faust«-Bestandteile sind also noch da, jedoch nicht alle und nicht notwendigerweise an ihrem Platz. Die Gretchentragödie bleibt etwa außen vor, der Film endet auch nicht mit ihrer Rettung durch Gottes Gnade. Gott donnert höchstens mal gereizt, wenn der Wucherer in seinem Haus sein Geschäft verrichtet.

 

Ähnlich wie bei »The Tree of Life« lässt einen die Inszenierung von »Faust« fassungslos zurück: Sokurow hält die ganzen 138 Minuten ein halsbrecherisches Tempo durch, reißt einen in dieses triefende, sumpfige Horror-Deutschland aus verzerrten Perspektiven, kränklichen Farben, Fleisch und Erde, Verfall und Verwesung, wo die Leute in einem zugespitzten Ton sprechen und ständig zu hasten scheinen, wo Homunkuli gezüchtet werden und sich klebrig-dunkle Tentakeln durch einen Beichtstuhl winden.

 

Nur: Was erzählt einem Sokurow da? Dass das Streben nach Wissen ins Verderben führt und unweigerlich in einem Jahrhundert der Diktatoren enden muss? Dass der Mensch sich in seiner fundamentalen Verdammnis einrichten möge? Für sich genommen liest sich »Faust« ambivalent, als Bestandteil der Tetralogie lässt einen erschaudern, was Sokurow da andeutet.

 

Daher ist es mehr als deprimierend, dass die Jury in Venedig den Goldenen Löwen an »Faust« auslobte, aber mit David Cronenbergs »Eine dunkle Begierde« ein genuin aufklärerisches Werk links liegen ließ.