Wurzeln in der Luft

Der geniale Wuppertaler Soundskulpteur Hans Reichel ist gestorben

Hans Reichel war so eines dieser Wunderwesen, die einfach nur Staunen machende Meisterschaft in ganz unterschiedlichen Feldern errangen: Als Gitarrist war er einer der europäischen Pioniere der freien Improvisation; er war einer der versponnensten Instrumentenerfinder, der mit dem Charme zärtlichster Rohheit die ungewöhnlichsten Gitarrenprototypen schuf, zudem noch das skurrile Daxophon, ein sprechendes Instrument (der an ein Tier gemahnende Name ist Programm), schließlich einer der erfolgreichsten deutschen Typografen, der ein halbes Dutzend weltweit verwendeter Schriftenfamilien entwarf. Natürlich hat er seine superverspielte Homepage selbst programmiert, irgendwo erfährt man da auch, dass er Fliesen gestaltete und sein eigenes Schachspiel schnitzte.

 

Er hätte sich mit seinen Instrumenten, hätte er sie lizenziert, dumm und dämlich verdienen können. Vor allem das Daxophon sorgte seit seinem Auftauchen vor 25 Jahren für nicht enden wollende Verblüffung. Dabei gelang es doch so einfach: Reichel schnitzte aus unterschiedlichstem Holz feine, zungen-förmige Skulpturen, schraub-te sie fest, klemmte einen Tonabnehmer drunter und klopfte, streichelte, bestrich und verbog sie. Tatsächlich: Es gibt wohl kein Instrument, das so »stimmlich«, so kreatürlich klingt. Reichel hat das Daxophon nie in Serie produziert, Anfragen von Sammlern und Kollegen beschied er für gewöhnlich abschlägig. Auf das Dumme und Dämliche verfiel er nie.

 

Das war schon in den frühen 70er Jahren so. 1970 auf dem Jazzfest in Frankfurt (einer Art Gründungsveranstaltung des europäischen Free Jazz), da war er erst 21 Jahre alt, prophezeite man dem Debütanten eine glänzende Karriere – kommerzieller Natur! Denn Reichel machte da weiter, wo seinerzeit erfolgreiche Folk-Weirdos wie Robbie Basho aufhörten. Reichel spielte eine imaginäre Folklore jenseits von Korea und Mississippi-Delta – so freigeistig wie der benachbarte Free Jazz, so erdverbunden wie amerikanische Roots Musik. Und doch geboren im Bergischen, zwischen Wuppertal und Hagen, wo Reichel herkommt, wo er bis zum Schluss gearbeitet hat. Reichel verzichtete auf die Karriere, verschrieb sich der Berliner Free Music Production, alle paar Jahre eine Platte voller Inside Jokes und verschrobener Coverkunst (meistens solo). Immer schöner wurde die Musik, immer strahlender, klarer, funkelnder. Keine »Roots« mehr, stattdessen Konferenz der Vögel, luftiger klang keine Gitarrenmusik in den 80er Jahren.

 

Reichel, ein zurückhaltender, unberechenbarer, hintersinnig lakonischer Typ, verlegte sich immer mehr auf sein Daxophon, das handwerklich Vollendete stand im Vordergrund, das ging durchaus auf Kosten seiner Fingerpickings. Dann in den letzten zehn Jahren kaum noch Auftritte, aber erfunden, getüftelt, geschraubt und entdeckt hat er bis zum Schluss. Hans Reichel wurde gerade mal 62 Jahre. Sein Tod am 22. November kam jäh.