»Das Publikum ist schlauer als ich«

In The Descendants lässt Alexander Payne George Clooney Gefühle zeigen –

ein Gespräch mit dem Regisseur über künstlerische Freiheit in Hollywood

und warum zwei plus zwei im Kino etwas anderes ist als vier

StadtRevue: Seit Ihrer letzten Regiearbeit »Sideways« sind sieben Jahre vergangen. Der Film war sehr erfolgreich, Sie haben für das Drehbuch einen Oscar bekommen. Warum hat es so lange gedauert, bis Sie Ihren nächsten Kinofilm gemacht haben?

 

Alexander Payne: Zum einen bin ich nicht der Typ, der sich zu Wort meldet, wenn er nichts zu sagen hat. Zum anderen habe ich zweieinhalb Jahre an einem Skript zu einem Film gearbeitet, der ein größeres Budget benötigt und bis heute nicht gedreht worden ist. Das Drehbuch war im Frühjahr 2009 fertig – pünktlich zum Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Es war nicht möglich, Finanziers für den Film zu finden. Nach zweieinhalb Jahren habe ich das Projekt erst einmal auf Eis gelegt und mich dann sehr schnell für »The Descendants« entschieden, weil ich nicht mehr nur am Schreibtisch sitzen, sondern endlich auch wieder einen Film drehen wollte. Zwischendrin habe ich sogar einen Pilotfilm fürs Fernsehen gemacht, nur damit ich mal wieder ein paar Schauspieler anschreien konnte.

 

Sie gehören zu einer sehr kleinen Gruppe von Filmemachern, die sich im Hollywood-System kreative Freiheit bewahrt haben. Was ist Ihr Geheimnis?

 

Stimmt, ich bin eine Rarität. Es gibt nicht viele Regisseure in den USA, die erwachsene, gegenwartsbezogene Geschichten erzählen und dabei die künstlerische Kontrolle über ihre Arbeit behalten. Aber der Trick ist ganz einfach: ein niedriges Budget. Normalerweise habe ich kurze Drehzeiten, bleibe unter der Budgetgrenze, und wenn die Filme ihr Geld wieder einspielen, darf ich weiter Filme machen.

 

Es gibt keine Einmischungsversuche von Studioseite?

 

Die gibt es. Solange mir der Final Cut vertraglich zugesichert ist, bin ich auch unheimlich offen gegenüber den Anregungen, die vonseiten der Produzenten und Geldgeber kommen. Wenn bei den zwanzig Ideen nur eine gute dabei ist, habe ich Glück – und sie fühlen sich ernst genommen.

 

»The Descendants« erzählt von einem Vater, dessen Frau im Koma liegt. Auf sich allein gestellt ist er mit seinen erzieherischen Pflichten überfordert – und dann erfährt er auch noch, dass seine Frau ihn betrogen hat. Ist das die Alexander-Payne-Version eines Familienfilms?

 

Ehrlich gesagt hat mich der familiäre Aspekt der Geschichte gar nicht so sehr interessiert. Mich fasziniert vor allem die Beziehung zwischen dem Vater und der älteren Tochter und zum anderen die Art der Entscheidungen, die die Figuren in dem Film treffen. Etwa dass sich der Vater dazu durchringt, dem Geliebten seiner Frau zu sagen, dass er zu ihr ins Krankenhaus gehen soll, auch wenn er ihn am liebsten umbringen möchte. DieFiguren interessieren mich als Menschen und nicht in ihrer familiären Rollenzuschreibung.

 

George Clooney zeigt sich in seiner Rolle ungewöhnlich gefühlvoll und darf sogar ein paar Tränen ver­gießen.

 

Genau diese Seite von ihm wollte ich sehen. In »Michael Clayton« und »Syriana« sieht man sie kurz aufblitzen. Ich hatte nicht unbedingt vor, dass er in der Szene weinen muss, weil ich meinen Darstellern nicht ihre Emotionen diktieren will. Vielmehr versuche ich ein Szenario zu schaffen, in dem sich Gefühle entwickeln können. Aber ich dachte: Wenn Clooney in der Szene weint, bin ich gespannt, wie er es macht, weil ich ihn noch nie zuvor habe weinen sehen.

 

Wie viel Freiraum lassen Sie den Schauspielern am Set?

 

Neunzig Prozent der Arbeit eines Regisseurs ist das richtige Casting. Wenn man die richtigen Leute ausgesucht hat, kann man sie erst einmal machen lassen und hier und da etwas korrigieren. Schließlich sind es die Schauspieler, die den Ton eines Films entscheidend bestimmen.

 

Was hat Sie am Drehort Hawaii interessiert?

 

Es gibt das touristische Klischee, aber im Kino sieht man das eigentliche Hawaii nur sehr selten. Mich hat die Kultur auf Hawaii interessiert, die nichts mit den Postkartenbildern zu tun hat. Ich wollte die Lebensweise der Leute so akkurat wie möglich einfangen und habe auch den Soundtrack komplett mit Musik von dort bestückt.

 

Ist diese Art von Realismus Ihr wichtigstes Ziel als Filmemacher?

 

Ich möchte mit meinen Filmen dazu beitragen, dass die Menschen so wach wie möglich durchs Leben gehen. Das ist nicht einfach, weil es so viele Dinge gibt, die zum Schlafwandeln verleiten. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Publikum schlauer ist, als ich es bin. Aus der Angst heraus, dass man mich für dumm halten könnte, versuche ich möglichst intelligente Filme zu machen. Ich will, dass die Zuschauer an meinen Filmen teilnehmen können. Billy Wilder hat gesagt: »Du sagst dem Publikum zwei plus zwei und nicht vier«. Aber die meisten amerikanischen Filme sagen die ganze Zeit »Vier, vier, vier ...«