Hauptstadt des guten Geschmacks

Hasselt ist der Underdog Belgiens. Zu klein, um touristisch neben Brügge oder Gent bestehen zu können, zu weit weg von Brüssel, um politisch eine Rolle zu spielen. Johannes J. Arens hat sich für den dritten Teil unserer Reihe »Goeiedag und Bonjour – StadtRevue unterwegs in Belgien« in der Hauptstadt der Provinz Limburg umgesehen.

Ein in ein kariertes Leibchen gezwängter Rauhaardackel wartet neben seinem Herrchen vor einem Wäschegeschäft. Die Gattin verlässt den Laden mit mehreren großen Tragetaschen. Gemeinsam spazieren sie weiter und betrachten die Auslage einer Konditorei hinter einem blitzblank geputzten Schaufens­ter. Ein sorgfältig inszeniertes Stillleben aus cremegefüllten Törtchen mit zarter Glasur, pastellfarbenen Macarons und den berühmten Speculaas, der fingerdicken Version unseres Weihnachtsgebäcks, die hier das ganze Jahr über verkauft wird. Schmale zweistöckige Häuser aus rotem Ziegel und mit gemauerten Bullaugen säumen die Straße. Zwei Straßen weiter, auf dem Grote Markt, dreht ein historisches Karussell zu leisem Walzergedudel seine Runden. Eine Handvoll Kleinkinder genießt den Vormittag im sanften Geschwindigkeitsrausch unter gemalten Stadtansichten und Darstellungen Genever trinkender Damen.

 

Hasselt ist die hoofdstad van de smaak, die selbsternannte Hauptstadt des guten Geschmacks. Neben der für Belgier jenseits der Mittelschicht üblichen Eleganz in Bekleidungsfragen und den entsprechenden Einkaufsmöglichkeiten sind Spekulatius und Genever dabei die wichtigsten Argumente. Letzterer, ein mit Wacholder und anderen Gewürzen destillierter Schnaps, verhalf gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit knapp 30 lokalen Destillen zu einem gewissen überregionalen Ruhm. Danach wurde es ruhig um die heute 70.000 Einwohner starke Stadt, die 1839 mehr oder weniger zufällig zur Hauptstadt der Provinz Limburg wurde, nachdem im belgischen Unabhängigkeitskrieg das benachbarte Maas­tricht an die Niederlande gegangen war.

 

Erst im August 2010 machte Hasselt wieder Schlagzeilen. Beim jährlichen Musikfestival Pukkelpop, wo unter anderem Eminem, James Blake oder die Fleet Foxes spielen sollten, stürzten mehrere Bühnen wegen plötzlicher Orkanböen ein – fünf Besucher starben, 70 weitere wurden verletzt. Auch die landesweite Anerkennung, die die 45-jährige sozialistische Bürgermeisterin Hilde Claes für ihren souveränen Umgang mit der Katastrophe bekam, kann einen bitteren Beigeschmack für die 2012 geplante Wiederaufnahme des Festivals nicht verhindern. Hasselt wird, wie Duisburg nach der Love Parade 2010, noch lange mit dem Attribut einer Katastrophenstadt zu kämpfen haben.

 

Abgesehen davon hat die Stadt in den letzten Jahrzehnten, abseits von Provinzialität, eine eigene, überzeugende Dynamik an den Tag gelegt. Obwohl oder vielleicht gerade weil man sich immer gegen größere, mächtigere und spannendere Konkurrenten behaupten musste (und meistens den Kürzeren zog), kann man sich über mangelndes Selbstbewusstsein nicht beklagen. Der Hähnchengrill im Stadtzentrum heißt selbstverständlich Hasselt Fried Chicken, ein Spielwarenladen bewirbt das Quiz-Set Hasselt Expert mit 400 Fragen zur Geschichte der Stadt, und die 1971 als Limburgs Universitair Centrum gegründete Universität wurde 2005 kurzerhand in Universiteit Hasselt umbe­nannt.

 

Zusammen mit den drei örtlichen Fachhochschulen zählt die Stadt rund 14.000 Studierende. Das entspricht immerhin etwa einem Fünftel der Bevölkerung – Tendenz steigend. 2007 belegte Hasselt in einer Untersuchung zur Lebensqualität von 76 Städten in vier europäischen Ländern den ersten Platz. Dabei vergaben die Hasselter Bestnoten in den Sparten Sicherheit, Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Mobilität und Umwelt. Eine Belohnung für eine weitsichtige Stadtentwicklungspolitik, die sich konsequent auf eine nachhaltige Verbesserung der kleinen Dinge des Alltags konzentriert.

 

Alle fünf Minuten fahren Busse im so genannten Boulevardpendel auf der fußgängerfreundlich sanierten Ringstraße um den Stadtkern, alle zehn Minuten pendelt eine weitere Linie zwischen Bahnhof und Marktplatz. Für sämtliche Fahrgäste ist der innerstädtische Busverkehr seit 1997 kostenlos. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Gastronom Steve Stevaert aus Ärger über die verkehrstechnischen Probleme der Stadt als Kandidat bei der Bürgermeisterwahl aufstellen lassen. Er gewann vor allem aufgrund der Überzeugungskraft seines Verkehrskonzepts, das seither von Experten europaweit als Best Practice angeführt wird.

 

Bereits fünf Jahre vor der Eröffnung des Kölner North Brigade Skateparks in Nippes baute die Stadt mit dem 3000 Quadratmeter großen Kapermolen-Park eine der größten Skateanlagen Europas. Eine hohe Akzeptanz in der Szene erzielte man mit Scout-Teams, die im Vorfeld die Vorlieben der Skater für bestimmte öffentliche Plätze in der Innenstadt ermittelten und in der neuen Anlage nachstellten. Im vergangenen Jahr organisierte die Stadt, nachdem es wiederholt zu Beschwerden aus Handel und Gastronomie gekommen war, eine Art Casting für Straßenmusikanten. Erstmals wurden die Lizenzen nicht auf einfache Anfrage, sondern im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens im Rathaus vergeben. Eine Maßnahme, die soviel Anklang fand, dass sich sogar ein 21-jähriger Kandidat der Casting-Show The Voice van Vlaanderen bemüßigt fühlte, am Vorsingen teilzunehmen.

 

Unweit des Bahnhofs schieben derzeit Bulldozer die Sandhaufen einer riesigen Baustelle zu ordentlichen Rampen zusammen. Hier entsteht das neue Justizzentrum. Aus einem breiten Querriegel wächst ein gigantischer Baum aus Beton, Holz, Glas und Stahl. Der Entwurf des Architektenkollektivs TWINS soll an die vormoderne Rechtsprechung unter Bäumen erinnern, von denen sich einer im Wappen der Stadt wiederfindet. Der Bau folgt konsequent ökologisch-nachhaltigen Vorgaben, so erinnern Metall-Lamellen vor den Fenstern nicht nur an Blätter in der Sonne, sondern klimatisieren das Gebäude auf schonende Weise.

 

In einem ruhigen Moment trägt der Wind die Ankündigung des Intercitys nach Lüttich herüber, so als wollte er auf den großen Schwachpunkt der Stadt hinweisen. Hasselt liegt knapp 30 Kilometer vom niederländischen Maastricht und rund 70 Kilometer vom deutschen Aachen entfernt – ideale Voraussetzung für eine Stadt, die sich gerne mit Einzelhandel und Gastronomie profilieren möchte. Doch der gute Geschmack ist per Bahn bislang nur ziemlich umständlich über Lüttich zu erreichen. Das soll besser werden, zumindest falls der so genannte Spartacusplan umgesetzt werden sollte. Die Kooperation zwischen flämischen Verkehrsbetrieben und belgischer Bahn sieht eine S-Bahn zwischen Hasselt und Maastricht vor. 200 Millionen Euro soll das Projekt kosten und voraussichtlich 2017 fertig werden.

 

Bis dahin wird vermutlich auch die niedrige Bahnhofshalle erneuert, die ziemlich sanierungsbedürftig vor sich hin dümpelt. Ein kleines Mädchen steht vor den antiquierten Kaugummiautomaten. Es hat die Wahl zwischen knallbunten Kugeln der girls collection und in zartem Lindgrün gehaltenen Oxfam-Bio-Minz­bonbons aus Para­guay. Stolz zieht es nach kurzem Zögern mit einem riesigen pinkfarbenen Kaugummi von dannen. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten – und manche Dinge brauchen ein bisschen Zeit.