Angst essen Business auf

Wenn Menschen in einer Krise stecken, gehen sie gewöhnlich zum Psychiater. Warum eigentlich nicht die Musikindustrie?

Manchmal reicht schon ein einziger Satz, um eine komplexe Problematik auf den Punkt zu bringen. Als die Recording Industry Association of America (RIAA) vor kurzem ihre außergerichtliche Einigung mit der MP3-Tauschbörse Audiogalaxy vermeldete (die faktisch deren sofortigen Tod bedeutete), nannte RIAA-Präsidentin Hilary Rosen die erzielte Vereinbarung einen »Sieg für alle, denen der Schutz des Wertes von Musik am Herzen liegt.«
Wer diesen Satz aufmerksam liest, kann nicht umhin, sich eine Reihe von Fragen zu stellen, die genau ins Herz der gegenwärtig viel beschworenen »Krise der Musikindustrie« zielen: Wer kämpft denn da? Was ist der »Wert« von Musik? Und vor wem muss er eigentlich geschützt werden?

Sündenbock Internet

Noch bis vor gut einem Jahr reichte den fünf Major Labels (BMG, Universal, Sony, EMI, Warner) ein einziges Wort, um ihre sinkenden Verkaufszahlen zu erklären: Napster. Das von Shawn Fanning entwickelte Filesharing-System erlaubte es Millionen von Usern, kostenlos Musikdateien im MP3-Format übers Internet zu tauschen und somit das Geld für eine CD zu sparen.
Es wurden keine CDs mehr verkauft, weil deren Inhalt für Jedermann mit einem Internetanschluss frei verfügbar war: So schlicht diese Erklärung war, so gerne wurde sie geglaubt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt muss sich in den Köpfen der Vorstandsvorsitzenden und Chefmanager dieser Welt ein Denkfehler festgesetzt haben, der bis heute die Diskussion um das Filesharing bestimmt.
Denn anstatt auf die neu entstandene Nachfrage nach einer unkomplizierten Online-Distribution mit einem entsprechenden Angebot zu reagieren, wurde einfach die Nachfrage kriminalisiert. Zwar erkannte Bertelsmann damals das Potenzial von Napster, aber einmal in der Bürokratie des Weltkonzerns gefangen, lief das vermeintliche Flaggschiff einer schönen digitalen Zukunft recht bald auf Grund. Immer wieder wurde der Start des neuen kostenpflichtigen Services mit legalen Files angekündigt und verschoben. Inzwischen ist es mehr als fraglich, ob Napster überhaupt noch User hat, die über den Kreis der Insider und Nerds, die die Vorabversionen testen, hinausgehen.
Die eigentlich erstaunliche Folge des Bertelsmann-Einstiegs aber war diese: Trotz der Sperrung aller illegalen Files sanken die Verkaufszahlen weiter! Eine einfache Revision des alten Erklärungsmodells lieferte flugs das neue: Napster im speziellen, Filesharing im allgemeinen wurden für die Umsatzeinbußen im Tonträgermarkt verantwortlich gemacht. An dieser Argumentation hat sich im Grunde bis heute nichts geändert, wenn man einmal davon absieht, dass natürlich auch das Brennen von CDs von der Industrie immer wieder als Existenz bedrohend angesehen wird.

Kalter Krieg gegen die Konsumenten?

Beide Phänomene lassen sich dabei auf dasselbe veränderte Verhalten der Käufer zurückführen. Die nämlich fingen irgendwann an, die ihnen vorgesetzten Produkte nicht einfach nur zu konsumieren, sondern nach ihren eigenen Vorstellungen zu modifizieren. Wer sich zum wiederholten Male von dem zahlreichen Füllmaterial auf dem schnell zusammengeklopften Album eines mit ein oder zwei Singles erfolgreichen Acts enttäuscht sah, hielt per Internet lieber gleich nur nach den guten Stücken Ausschau oder brannte sich eine nach dem persönlichen Geschmack selbst zusammengestellte CD. Kein Wunder also, dass die großen Musikfirmen sich von diesen außer Rand und Band geratenen Konsumenten vor eine erste Gefahr gestellt sehen.
An dieser Stelle wird es – psychologisch. Denn natürlich fühlt sich niemand gerne bedroht, paradoxerweise gilt dies offenbar auch für multi-nationale Firmenkomplexe. Gerade die als kühle Rechner geltenden Spitzenkräfte der Industrie haben in den letzten Jahren erstaunliche Emotionalität bewiesen, indem sie ihre Verlustängste zum Movens ihrer Geschäftsentscheidungen werden ließen. Lautete eine übliche Geschäftsmaxime »Teile und herrsche«, so heißt dieser Tage die Maxime der Musikindustrie: »Verklage und verschlüssele«. Wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges arbeiten Sicherheitsfirmen auf der ganzen Welt unter Hochdruck an immer neuen Kopierschutzssystemen und digitalen Wasserzeichen, die freilich schon bald wieder von kreativen Kriminellen überlistet werden, und sei es bloß mit einem Filzschreiber, wie im Falle einer frühen Version des von Sony entwickelten CD-Schutzes.
Allen diesen atemlosen Aktivitäten, die selbstverständlich auch mit immens hohen Ausgaben für Anwälte und Technologieanbieter verbunden sind, steht eine recht überschaubare Anzahl von positiven Initiativen gegenüber. So einig sich die großen Fünf bei der Bekämpfung von illegalen Tauschbörsen und »CD-Klonen« auch sind, so schwer tun sie sich doch bei der Entwicklung eigener digitaler Vertriebs-Plattformen: Ob Pressplay, RealOne oder MusicNet, keines der bislang präsentierten Angebote konnte in Sachen Bedienbarkeit, Repertoire oder Preis-Leistungs-Verhältnis eine relevante Anzahl von Kunden überzeugen. Dazu kommt das Problem des technischen Standards: Während sich auf Seiten der User schon längst MP3 durchgesetzt hat, arbeitet die Industrie bevorzugt mit Marken abhängigen Formaten wie LiquidAudio oder Microsofts WMA, die untereinander nicht kompatibel sind und deren Player zum Teil in Verdacht stehen, ungefragt Spyware auf dem Rechner mitzuinstallieren, also Programme, die ohne Wissen des Users sensible persönliche Daten an die Herstellerfirma übermitteln.

Von Partnern zu Gegnern

Letzteres stellt ein besonders heikles Problem dar, denn wie die Industrie sind auch die User nicht vor Paranoia gefeit. So machte jüngst die Meldung die Runde, einzelne Musikfirmen hätten bereits in Millionenhöhe gefakte MP3-Dateien in Umlauf gebracht, die den Filesharern gründlich die Lust am Tauschen vermiesen sollen. Angeblich sollen schon Angriffe mit Viren und Trojanischen Pferden geplant werden. Mag das auch der überbordenden Fantasie einzelner Netz-Aktivisten geschuldet sein, so spricht es doch für das mehr als angespannte Verhältnis zwischen Industrie und Usern, dass solche Methoden überhaupt erst in Erwägung gezogen werden – ein Verhältnis, das vor allem von den verzerrten Selbstbildern der Beteiligten geprägt wird. Werden Verkäufer und Käufer im gültigen Handelsrecht noch als Partner eines Vertrages bezeichnet, so nehmen sich die beiden Parteien in der Realität zunehmend als Gegner wahr. Zwar hat die RIAA bis heute keine stichhaltige Erklärung dafür liefern können, wie Millionen von Menschen über Nacht von Käufern zu Kriminellen werden konnten, doch setzt ihre Politik genau dies voraus. Umgekehrt schlagen sich immer mehr Fans auf die Seite ihrer Idole, die ihrerseits ihren Plattenfirmen den Kampf angesagt haben. Eine Demonstration etwa von Michael-Jackson-Fans vor der US-Zentrale von Sony gegen die in ihren Augen mangelhafte Promotionsarbeit für das letzte Album des King Of Pop hätte sich vor wenigen Jahren auch niemand vorstellen können.
Andere Musiker, wie Don Henley oder Courtney Love, klagen nicht nur unterschlagene Tantiemen ein, sondern setzen sich vor Gericht sogar für eine Änderung des Urheberrechts zugunsten der Künstler ein. So findet sich die Musikindustrie, nicht nur in ihrer eigenen Vorstellungswelt, zusehends in einem zermürbenden Zwei-Fronten-Krieg wieder, bei dem sie auf der einen Seite sich genau gegen die Partei zur Wehr setzen muss, deren Interessen sie doch vor der anderen Partei zu schützen vermeint. Eine ausgesprochen heikle Situation für einen Anwalt, wenn ihn sein eigener Klient verklagt.

Entwicklung verschlafen

Aber es gibt auch positive Zeichen. In einem kürzlich, am 17.6., geführten Interview mit der Süddeutschen Zeitung räumte Bertelsmann-Chef Thomas Middelhof ganz freimütig ein: »Das Wachstum bei den CDs fehlt, was jedoch weniger an der CD-Piraterie oder dem kostenlosen Tausch der Titel über das Internet liegt. Die Plattenfirmen haben schlicht geschlafen und sich nur auf ihre Oldies verlassen. Eine lange Zeit ignorierte die Industrie die veränderten Wünsche der Kunden – jetzt ist die Branche aufgewacht. Und die Nachfrage nach Musikinhalten steigt weiter an.« Interessant ist dieses Zitat nicht nur wegen seiner überraschend offenen Selbstkritik, sondern auch weil ihm von den ansonsten so kommentierfreudigen Business-VIPs kaum widersprochen worden ist.
Vielleicht hat dabei eine Rolle gespielt, dass der Offene Brief, in dem Thomas M. Stein, Präsident der BMG Europe, ebenfalls vor wenigen Wochen der Bundesregierung eine Mitschuld an den Umsatzverlusten der Industrie vorwarf, von Kulturminister Nida-Rümelin harsch zurückgewiesen wurde. Nicht zuletzt durch solche erzieherischen Maßnahmen könnte sich in einer Phase der technischen wie emotionalen Hochrüstung zuletzt doch eine Trendwende anbahnen. Die Voraussetzungen dafür liegen, wie aus der Natur des Konfliktes nicht anders zu erwarten, vor allem im mentalen Bereich. Zunächst einmal müsste die Industrie wieder anfangen, in den Usern keine MP3-geilen Schmarotzer, sondern potenzielle Kunden zu sehen. Dann, und das dürfte der schwierigste Part werden, müsste eben diesen Kunden erfolgreich vermittelt werden, dass Hilary Rosen, wenn sie vom »Wert der Musik« spricht, nicht ausschließlich an den Shareholder Value denkt. Danach erst können sich die Global Players gerne wieder auf das besinnen, was eigentlich ihre Kernkompetenz ausmachen sollte: Geschäfte machen.