Wo einst die Hanse ihr Kontor besaß, ragt nun Antwerpens neues Wahrzeichen in die Höhe: das Museum an de Stroom, Foto: Johannes J. Arens

Stadt am Strom

Einst war Antwerpen das größte industrielle Ballungsgebiet Europas. ­Doch längst versucht es sich als Kulturstadt zu etablieren. Wir haben uns in der Metropole an der Schelde umgesehen

»Türe bitte schließen« steht auf den Schildern am Durchgang zu dem Café, das wohl nicht ohne Grund »Storm« heißt. Es zieht im ehemaligen Hafen Antwerpens. Über dem Foyer mit Blick auf den Hanzestedenplaats ragt das neue Museum aan de Stroom gleich zehn Stockwerke in den Himmel. Der Dunstschleier ist trotz des starken Windes noch nicht ganz der Sonne gewichen und lässt die Silhouette der Hochhäuser und Türme besonders imposant wirken. Über die Rolltreppen strömen schon am frühen Sonntagmorgen die Menschen hinauf auf die Aussichtsplattform auf dem Dach, vor dem Guckloch in den gläsernen Wänden stehen Touristen mit teuren Spiegelreflexkameras Schlange.

 

Von hier oben lässt sich gut erkennen, was die Metropole an der Schelde durch die Jahrhunderte zu bieten hatte: Zum einen den historischen Stadtkern aus dem 16. Jahrhundert um die Kathedrale mit Grote Markt, Rathaus und den prächtigen Zunfthäusern der Krämer, Gewandschneider und Zimmerleute. Selbstbewusste bürgerlich-kaufmännische Pracht mit den zierlichen Treppen- und Glockengiebeln sowie sorgfältig darauf inszenierten vergoldeten Figuren. Zum anderen die breite Einkaufsstraße Meir mit den großen, breiten und eindrucksvollen Geschäften und Häusern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es war die Epoche, in der Belgien durch eine Wechselwirkung von brutaler Kolonialisierung des Kongo und durchdringender Industrialisierung daheim zu Europas Vorzeige-Ökonomie heranwuchs.

 

In der Ferne zeigt sich, einem neo-barocken Tempel gleich, die Kuppel des Antwerpener Hauptbahnhofs. Mehr als 500 Züge passieren die knapp 200 Meter lange Bahnhofshalle, für deren Gestaltung man sich 1905 unter anderem vom Pantheon in Rom inspirieren ließ. Technik und Industrie als neue Gottheiten. Gleich drei Weltausstellungen fanden zwischen 1885 und 1930 in der bevölkerungsreichsten Stadt Belgiens statt, doch nach zwei Weltkriegen und zwei deutschen Besatzungen — zwischen Oktober 1944 und März 1945 forderten Angriffe 4500 Todesopfer und zerstörten 50.000 Wohnungen — gab es auch hierzulande nur noch wenig Anlass, Fortschritt und Zukunft zu huldigen.

 

 In den 50er Jahren überlegte man, den maroden Bahnhof schlichtweg abzureißen. Erst 1993 konnte man sich zu einer grundlegenden Sanierung entschließen. Im selben Jahr wurde mit Antwerpen erstmals eine belgische Stadt zur Kulturhauptstadt Europas gekrönt und der Startschuss für die Renaissance der nach Kirche und Kapital bedeutendsten Macht gegeben — der Kultur.

 

Das wichtigste Bauvorhaben Antwerpens sei gegenwärtig das Projekt »Stadt am Strom«, hieß es 1998 im ­Baedeker Belgien. »Die durch die Abwanderung des Hafenbetriebes in die nördlich gelegenen neu erschlossenen Bassins nun verwaist liegenden Kaianlagen in unmittel­barer Nähe des Zentrums sollen zum integralen Teil der Stadt werden.« Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben und drei Arbeiten zur Weiterentwicklung ausgewählt: die Neugestaltung des Flussufers, ein neues Wohngebiet mit Freiluftschifffahrtsmuseum und ein mehrstufiger Platz mit unterirdischer Kulturstadt.

 

Fast 15 Jahre später lässt sich vom Dach des unlängst eröffneten Museum aan de Stroom aus erkennen, was aus  den ambitionierten Projekten der Stadtentwicklung ge­worden ist. Die alten Docks sind längst noch nicht vollständig er­schlossen. Es wird weiterhin gebaut, zwischen denkmalgeschützten Hafenkränen warten abgestützte historische Fassaden auf das Ende ihres Dornröschenschlafes. Das Schifffahrtmuseum beschränkt sich auf ein paar Kähne, die im sanierten Hafenbecken vor sich hin dümpeln, und auch die neue Gestaltung des Scheldeufers lässt noch auf sich warten. Lediglich die versprochene Kulturstätte ist gekommen, allerdings hat sich das Konzept einer unterirdischen Stadt in sein Gegenteil verkehrt.

 

Die zehn Stockwerke des mit rotem Sandstein verkleideten Baus ragen dort in den Himmel, wo einst im 16. Jahrhundert die Hanse ihr Kontor besaß. Ein Museum, das sich der Stadt, dem Fluss und dem Hafen widmet, wollte man bauen. Das klingt nach einem herkömmlichen Stadtmuseum. Doch wurde im Mai vergangenen Jahres eines der spektakulärsten Museen der letzten Jahrzehnte eröffnet. Das Haus basiert auf der gewagten Zusammenlegung der Sammlungen des Ethnografischen Museums, des Schifffahrtsmuseums und des Volkskundemuseums mit einem Gesamtfundus von mehr als 470.000 Objekten.

 

Es gibt ein frei zugängliches Schaudepot und eine ­Dauerausstellung mit Mitmachmodulen, bei denen die Besucher gefragt sind, über die Zukunft der Stadt nach­zudenken. Ferner beauftragte man einen Hauskompo­nisten, der für jede Etage eine eigene Klanginstallation komponierte, zudem sind so spektakuläre Werke der ­flämischen Kunstge­schich­te wie Jean Fouquets von blauen und roten Engeln umringte Madonna von 1452 zu sehen.

 

Und dann ist da eben noch jener überwältigende Ausblick vom Dach des Hauses. Mit dem an gestaptelte Frachtcontainer erinnernden Entwurf verfügt die Stadt neben der Onze-Lieve-Vrouwekathedraal aus dem ­16. ­Jahrhundert und dem Bahnhof nun gewissermaßen über ihre dritte Kathedrale. Wie bei einer mittelalterlichen ­Kirchenstiftung wurde deren Bau unter anderem über den Verkauf von 3000 Händen aus Metall — dem Wahrzeichen der Stadt — von den Bürgern und Bürgerinnen der Stadt unterstützt.

 

Einst, so erzählt es die Legende, habe nämlich der Riese Antigonus von seiner Burg am Ufer der Schelde aus den vorbeifahrenden Schiffen horrende Zölle abgepresst. Denjenigen, die nicht bezahlen konnten oder wollten, schnitt er die Hand ab. Ersat dem Römer Silvio Brabo gelang es, den Riesen zu töten und daraufhin dessen Hand in den Fluss zu werfen. Aus »de hand werpen« wurde im Volksglauben Antwerpen, auch wenn der Name vermutlich eher auf die ersten Siedlungen »aan de warp« verweist.

 

Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus ist jener mutige Römer nichtsdestoweniger seit dem Jahr 1887 als Brunnenstatue zu sehen. Nur mit einem Feigenblatt bekleidet scheint der muskulöse Held im Begriff zu sein, die Pranke des besiegten Riesen wegzuschleudern und den Antwerpenern eine neue Zukunft zu eröffnen. Ein Blick auf den Stadtplan zeigt, dass sie ziemlich genau da gelandet sein müsste, wo heute die Erfolgsgeschichte der Stadt weiter geschrieben wird — am ehemaligen Hafen.