Zaungäste: Lea Seydoux, Julie-Marie Parmentier in "Les adieux à la reine"

Online Spezial: Aus dem Winterschlaf erwacht

Richtige Filme, falsche Preise: Die Berlinale 2012 überzeugte mit einem frischen und mutigen Wettbewerbsprogramm

Miguel Gomes lächelt leicht sarkastisch dem Publikum im vollbesetzten Berlinale-Palast entgegen. »Ich bin etwas verwirrt, dass ich mit einem Innovationspreis ausgezeichnet werde. Eigentlich wollte ich einen altmodischen Film drehen. Mein Fehler.« Die Jury der Internationalen Filmfestspiele Berlin unter Leitung von Mike Leigh hat dem 1972 geborenen Portugiesen soeben für seinen Film »Tabu« den Alfred-Bauer-Preis verliehen - eine nach dem ersten Festivalleiter benannte Medaille, mit der Werke ausgezeichnet werden sollen, die »neue Perspektiven der Filmkunst« eröffnen.


Dass ausgerechnet ein Film, der auf 16mm-Film in Schwarzweiß gedreht wurde und sich nicht nur im Titel auf einen Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau bezieht, mit diesem Preis geehrt wurde, ermangelt in der Tat nicht einer gewissen Ironie. Die Jury kapitulierte vor einem Film, der weniger »neu« als unkategorisierbar ist. Nach einem Vorspiel im Dschungel, in dem ein melancholisches Krokodil eine wichtige Rolle spielt, springt die Handlung von »Tabu« ins heutige Lissabon. Dort lebt die etwas rätselhafte alte Dame Aurora mit ihrer kapverdischen Haushälterin. Als Aurora stirbt, macht sich ihre Nachbarin Pilar auf die Suche nach einem ehemaligen Liebhaber der Verschiedenen. Als sie ihn findet, blendet der Film zurück in eine nicht näher identifizierte afrikanische Kolonie Portugals. Fortan bleibt »Tabu« stumm – oder genauer: die Figuren bleiben stumm. Ein Erzähler schildert die Geschehnisse aus dem Off und auch Geräusche und Musik sind zu hören, aber was die Schauspieler sagen, könnte nur ein Lippenleser verstehen. Gomes’ Leistung besteht nicht zuletzt darin, dass sein Film kein bemühtes formales Experiment ist, sondern ein spielerisch, humorvolles Liebesdrama, das ganz nebenbei satirisch den europäischen Kolonialismus aufs Korn nimmt.


Ein Goldener Bär für »Tabu« wäre eine schöne Bestätigung einer Wettbewerbsauswahl gewesen, die auf frische Talente setzte und endlich nicht nur auf die (politischen) Inhalte achtete, sondern auch auf deren filmische Umsetzung. Stattdessen ging der Hauptpreis des Festivals an das Brüderpaar Paolo und Vittorio Taviani - die einzigen Regisseure deutlich jenseits des Rentenalters im Wettbewerb. Ihr Film »Cesare deve morire« begleitet halbdokumentarisch die Proben einer Aufführung von Shakespeares »Julius Caesar«. Das Besondere: Die Schauspieler sind allesamt Insassen eines italienischen Hochsicherheitsgefängnisses, Mafiosi, Mörder und Berufsverbrecher. Mit »Cesare deve morire« gehen die Tavianis zurück an ihre neorealistischen Wurzeln - sie filmen in Schwarzweiß und mit Laiendarstellern – und geben zugleich dem Genrebegriff Gefängnisdrama eine ganz neue Bedeutung. Eine Rückkehr zur Form nach einigen belanglosen Literaturverfilmungen der Italiener. Dennoch wirkt der Goldene Bär wie eine klassische Jury-Kompromissentscheidung: Es gewinnt der Film, gegen den niemand etwas hat.


Zwei der Favoriten der Kritiker mussten sich mit Silbernen Bären zufrieden geben. Christian Petzold bekam den Regiepreis für sein DDR-Drama »Barbara« (ausführliche Besprechung in der Märzausgabe der StadtRevue) verliehen und Bence Fliegauf für »Csak a szél« den Großen Preis der Jury. Letzterer ist ein gutes Beispiel dafür, was diesen Berlinale-Jahrgang positiv von den anderen der Ära Dieter Kosslick unterschied: Verhandelt wird ein aktuelles, hoch politisches Thema – so weit, so normal -, aber in einer filmischen Form, die mehr vom Zuschauer verlangt, als es sich in seiner eigenen Betroffenheit bequem zu machen. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Eine Roma-Familie wird in einem ungarischen Dorf erschossen, die Täter laufen weiter frei herum. Die Nachbarn leben in ständiger Angst vor einem neuen Pogrom. Wie in den Filmen der Gebrüder Dardennes heftet die Kamera sich buchstäblich an die Fersen einer Familie, die mit der Angst leben muss. Regisseur Bence Fliegauf findet aber eine ganz eigene subtile Art, die Bedrohung im Alltag spürbar zu machen. Einzig ein etwas offensichtlich den Rassismus in Ungarn erklärender Dialog zwischen zwei Polizisten stört in diesem sonst so souveränen Werk, das den Zuschauer nie mehr wissen lässt als seine Protagonisten.


Fliegauf drehte wie die Gebrüder Taviani mit Laiendarstellern. Keine Filmerfahrung hatten auch die Gewinner der beiden Darstellerpreise der diesjährigen Berlinale: Die 15-jährige Rachel Mwanza wurde auf der Straße in Kinshasa von einem Agenten entdeckt und für die Hauptrolle von »Rebelle« gecastet. Im Film des Kanadiers Kim Nguyen spielt sie ein Mädchen, das zum Leben als Kindersoldatin gezwungen wird. Auch der Däne Mikkel Boe Følsgaard hat vor seiner Rolle als psychisch labiler König Christian VII. von Dänemark in »En Kongelig Affære« niemals in einem Kinofilm mitgespielt. Følsgaard studiert noch an einer Schauspielschule.


Dass das wenig bemerkenswerte Historiendrama »En Kongelig Affære« auch noch mit dem Drehbuchpreis bedacht wurde, war überraschend. Zumal der andere – und wesentlich bessere - Kostümfilm im Wettbewerb komplett leer ausging. Benoït Jacquots »Les adieux à la Reine« eröffnete die Berlinale und setzte gleich die Latte hoch. Erzählt werden die ersten Tage der Französischen Revolution konsequent aus der Perspektive der Bediensteten von Versailles. Im Mittelpunkt steht eine Vorleserin von Marie Antoinette, deren Liebe zu ihrer glamourösen Königin auf perfide Art bestraft wird. Benoït Jacquot gelingt es, ödes Ausstattungskino zu vermeiden, ohne in postmoderne Spielereien à la »Marie Antoinette« zu verfallen. Und nebenbei liefert der Film auch noch einen wunderbar beißenden Kommentar auf das Rote-Teppich-Syndrom von Filmfestivals, bei denen sich alle im Licht der Stars sonnen, ohne dass natürlich die Distanz jemals wirklich aufgehoben würde . Vielleicht mochten die Stars in der Jury (u.a. Jake Gyllenhaal und Charlotte Gainsbourg) auch daher dem Film keinen Preis geben.


Mit einer Hand voll sehr guter Filme - zu nennen wäre auch noch Ursula Maiers »L’enfant d’en haut«, der mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde - war dies der vielleicht beste Wettbewerb der Ära Kosslick. Ob das mit Änderungen nach der massiven Kritik zu tun hat, die die von ihm verantwortete Auswahl letztes Jahr nach sich gezogen hat oder mit Zufällen des Angebots, wird sich in den nächsten Jahren zeigen – Kosslicks Vertrag wurde vor kurzem bis 2016 verlängert. Auf Augenhöhe mit Cannes ist man damit noch lange nicht, wie einige schon jubeln. Auch Venedig scheint enteilt, wobei nach dem Abgang von Marco Müller vom Lido die Zukunft des ältesten Filmfestivals der Welt ungewiss ist. Aber die Berlinale hat mit diesem Jahrgang Sympathien zurückgewonnen, als Publikumsfestival mit 300.000 Zuschauern bleibt sie in Europa sowieso unschlagbar.