»Das Gefühl der Verlorenheit kenne ich sehr gut«

Wenn Sex zur Sucht wird: Steve McQueen über seinen Film »Shame«, Hauptdarsteller Michael Fassbender und die Bedeutung des Körpers für sein Kino

StadtRevue: Wie sind Sie auf das Thema Sexsucht gestoßen?

 

Steve McQueen: Ich habe im Internet Berichte über Menschen gelesen, die regelmäßig Sex brauchen, um den Tag zu überstehen. Das fand ich sehr interessant, weil mir bisher, wenn ich über Süchte nachgedacht habe, diese Abhängigkeit nie in den Sinn gekommen ist. Sie involviert ja zwangsläufig andere Menschen, und darin habe ich den Stoff für ein interessantes Drama gesehen.

 

Wie unterscheidet sich diese Sucht von anderen?

 

Ob Sex-, Alkohol- oder Drogensucht – jede ist gleich strukturiert. Es gibt keinen Unterscheid bis auf das Ziel der Begierde, auf das sich die Sucht richtet.

 

Haben Sie in der Vorbereitung des Films mit Betroffenen gesprochen?

 

Ich habe mit drei Therapeuten in New York gesprochen, die als die kompetentesten Experten auf diesem Gebiet gelten. Über sie wurde dann auch der Kontakt zu Betroffenen hergestellt, die bereit waren, über ihre Sucht zu sprechen. Wir haben viele Interviews geführt und intensiv recherchiert. Ich entwickle meine Drehbücher am liebsten aus eigenen Nachforschungen.

 

Welche Art von Leere versucht ihre Hauptfigur Brandon durch seine Sucht nach Sex zu füllen?

 

Wir haben im Film bewusst offen gelassen, was genau Brandon in seinem Leben fehlt. Ich wollte, dass jeder Zuschauer sich selbst darüber Gedanken macht, was ihn in diese Sucht treibt. Dabei geht es nicht darum, die Sucht als etwas Geheimnisvolles oder Exotisches zu zeigen, sondern sie im Gegenteil für das Publikum zugänglich zu machen.

 

Brandon und seine Schwester Sissy haben denselben Familienhintergrund. Wie kommt es, dass sie ihre schlechten Kindheitserfahrungen so unterschiedlich kompensieren?

 

Jeder geht mit seiner familiären Vergangenheit anders um. Sissy ist eine Künstlerin. Sie will geben, sich ausdrücken und das, was in ihr ist, nach außen kehren. Sie ist ein extrovertierter Mensch, der explodiert. Und Brandon ein introvertierter Typ, der implodiert.

 

Was ist Scham für ein Gefühl?

 

Es ist ein Gefühl tiefer Erniedrigung. In den Interviews mit Betroffenen bin ich immer wieder auf dieses Schamgefühl gestoßen, das auch zum Titel des Filmes wurde. Wenn die Sexsüchtigen aus ihren sexuellen Eskapaden zurück ins Leben treten und einen Moment der Klarheit haben, denken sie fast immer: »Was zum Teufel mache ich hier nur?« Sie überfällt ein Gefühl der Peinlichkeit, weil sie sich haben gehen lassen. Um dieses tiefe Schamgefühl zu verdrängen, müssen sie sich gleich den nächsten sexuellen Kick holen.

 

Kann dieses Schamgefühl nicht Ausgangspunkt für eine Therapie sein?

 

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich hoffe es, aber es ist sehr schwer von dieser Sucht loszukommen. Die Therapie ist durchaus vergleichbar mit dem Stufenprogramm der Anonymen Alkoholiker.

 

Warum haben Sie ihren Film in New York und nicht in London gedreht?

 

New York ist eine 24-Stunden-Stadt, in der rund um die Uhr alles zugänglich ist. Die Entscheidung für New York wurde auch davon beeinflusst, dass hier die Experten und Betroffenen lebten, mit denen wir geredet haben. In London wollte niemand mit uns über Sexsucht sprechen. Zu der Zeit war das Thema in den britischen Medien sehr präsent und die Betroffenen haben einfach dicht gemacht.

 

Warum haben Sie sich erneut für Michael Fassbender als Hauptdarsteller entschieden, mit dem Sie schon in »Hunger« zusammengearbeitet haben?

 

Weil ich ihm glaube, was er spielt. Michael ist kein Filmstar, sondern ein Künstler. Er hat keine Angst neue, ungewöhnliche Dinge auszuprobieren und dabei möglicherweise keine gute Figur zu machen. Es gibt nicht viele Schauspieler wie ihn. Er ist ein Mann aus Fleisch und Blut, gleichzeitig strahlt er auch eine ungewöhnliche Femininität, Zärtlichkeit und Offenheit aus. Viele Schauspieler versuchen den Macho zu mimen und sind nicht bereit, sich vor der Kamera zu öffnen. Michael hingegen trägt seine Verletzlich­keit mit Würde.

 

Gibt es für Sie eine Verbindung zwischen ihrem ersten Spielfilm »Hunger« und »Shame«?

 

Der körperliche Aspekt spielt in beiden Filmen eine wichtige Rolle. In »Hunger« macht der IRA-Aktivist Bobby Sands seinen Körper zur Waffe, indem er im Gefängnis in den Hungerstreik geht. Er nimmt sich die Freiheit, nichts zu essen. Brendan hingegen lebt in New York, dem Mekka der westlichen Freiheit. Er hat einen anständigen Job, sieht gut aus und hat genug Geld. Obwohl ihm alle Möglichkeiten offenstehen, schafft er sich durch die Sexsucht sein eigenes Gefängnis. Er sperrt sich in seinem Körper ein. Meine Filme sind immer persönlich: In »Hunger« ging es um meine Jugend und den Verlust der politischen Unschuld, als ich herausgefunden habe, was mein Land mit den IRA-Gefangenen in Nord­irland getan hat. »Shame« wiederum beschreibt ein Gefühl der Verlorenheit, das ich, auch wenn ich selbst nie sexsüchtig war, sehr gut kenne.