Die Seele des Landes

Kein Krimi: Once Upon a Time in Anatolia von Nuri Bilge Ceylan

Anfangs tappen sie im Dunkeln. Einzig die Scheinwerfer ihrer Autokolonne erhellen die stockfinstere Nacht. Ein junger Arzt, ein respektabler Staatsanwalt, einige Polizisten und zwei heruntergekommene Tatverdächtige suchen einen Tatort und eine Leiche. Irgendwie sieht alles gleich aus, der Mörder kann sich nicht genau erinnern, immer fehlt irgendein landschaftliches Detail,  ein Baum, eine Quelle. Und alle sind ein wenig mit den Nerven runter. Im Wagen, bei der nächs­ten Zigarette, dem nächsten vergeblichen Halt, der Rast im Dorf werden Geschichten und Geschichtchen erzählt: über die Kälte, Kollegen, Frauen, die Zukunft des Landes, die Religiösen, den EU-Beitritt.

 

Der Tenor ist rational, um Erhellung bemüht, aber dennoch schießen rätselhafte Anekdoten quer, beispielsweise die von der Frau, die ihren Tod vorhersagte und zur anberaumten Stunde, kurz nach ihrer Niederkunft, verschied. Allein über diese Gespräche entsteht das faszinierende Psychogramm eines immer noch patriarchalischen, aber mit sich ringenden Landes. Die introvertierten Männer, die sich über die zugleich abstrakte und konkrete Leerfläche der anatolischen Steppe bewegen, sind bekannte Figuren aus dem Werk des mehrfach in Cannes ausgezeichneten Nuri Bilge Ceylan (»Jahreszeiten – Iklimler«). Doch wo sie in früheren Filmen ihre innere Ortlosigkeit, die aus dem Seelenspagat zwischen Tradition und Moderne herrührt, boshaft an Frauen oder Außenseitern ausagierten, kommt es hier zu Begegnungen. Wo Ceylan diese Unbehaustheit früher in einer wunderschön fotografierten, aber bisweilen aufdringlich spröden Symbolik zuspitzte, ist dieser Film diskursiver, lebendiger, wunderbar beiläufig und stilsicher inszeniert.

 

Nach anderthalb Stunden ist die endlose Nacht ist vorbei, die Leiche wurde gefunden, die Gruppe fährt heim und der Film könnte ein Ende finden. Doch Ceylan ist noch nicht fertig, lässt mit meisterlicher Souveränität die Ereignisse eine Stunde weiterlaufen, folgt seinen Figuren in den hellen Tag hinein. Und hier endlich bringt der Arzt, Hauptfigur in diesem merkwürdigen Kriminalfilm, Licht in die Geschichten und Geheimnisse der Nachtfahrt.

 

Vom Pathologen Rudolf Virchow ist der vielzitierte Satz überliefert: »Ich habe Tausende Leichen seziert, aber eine Seele habe ich nicht gefunden.« Ceylan hat viele interessante Figuren ersonnen, aber erst mit diesem Film hat er ihnen Seele eingehaucht.

 

Once Upon a Time in Anatolia (Bir zamanlar Anadolu’da) TR/Bosnien und Herzegowina 2011, R: Nuri Bilge Ceylan, D: Muhammet Uzuner, Yilmaz Erdogan, Taner Birsel, 163 Min.