Foto: Manfred Wegener

»Das sind Dramen, die sich da abspielen!«

Wir haben mit dem Punk-Poeten von Chefdenker über die Abgründe der Musik, Randale und unpassende Frisuren gesprochen

»Gestern war ich Windeln kaufen/ Aber nicht für meinen Sohn/ Jetzt lass ich einfach alles laufen/ Und mach es mir bequem auf dem Balkon«: In den kurzen, heftigen Punkrock-Stücken von Chefdenker wütet die Entropie. Ist es möglich, sich im alltäglichen Chaos zu bewähren? Kaum. Zieht die permanente Krise zwischen Hartz IV und Dauerstau auf der Autobahn das Gemüt in Mitleidenschaft? Aber sicher!

 

Chefdenker behaupten im Angesicht der Krise in Permanenz einen verzweifelt-ironischen Heroismus. Soviel Untergang war nie. Trotzdem dürfen wir sicher sein, dass alle zwei Jahre ein neues Konzeptalbum dieser Kölschen Deutschpunk-Verfremder erscheinen wird. Ein bisschen was geht immer, und solange Claus Lüer auf seinem Posten ist, ist noch nicht alles verloren.

 

Seit über zwanzig Jahren ist der mittlerweile 42-jährige Lüer in Sachen Deutschpunk unterwegs, obwohl er nie Teil der Szene war. Aber mit Zeilen wie: »Du hast kein Geld und keinen Job/ Und grüne Haare auf dem Kopf/ Die Scheißgesellschaft macht dich krank/ Du bist ein Punk« hat er sich unsterblich gemacht.

 

Lüer ist im Chefdenker-Universum Johnny Cologne­some, der Texter, Sänger (»Gröhl«), Rhythmusgitarrist (»Schraddel«) der Band. Seine Mitstreiter sind Schlagzeuger Billy Luck, Bassist Graf Disco und Leadgitarrist The Kollege. Zusammen betreiben sie das Label Trillerfisch Records (chefdenker.de). Sie machen alles selber, Ehren­sache. Chefdenker gibt es jetzt seit zehn Jahren, davor war Lüer mit Knochenfabrik und Casanovas Schwule Seite unterwegs.

 

Ohne große mediale Unterstützung und ohne »hippe« Szene- Anbindung haben sie sich als eine der eigentümlichsten Punkbands etabliert. Viel davon kaufen können sie sich nicht, denn ihr Publikum schafft es nach wie vor, die ohnehin niedrigen Eintrittspreise runterzuhandeln — die Punks haben vor dem Konzert ihr Kleingeld bereits zum Bierkaufen ausgegeben. Irgendwann im kommenden Mai erscheint das fünfte Chefdenker-Album, »Eigenuran«. Es wird, wie alle ihre Alben, 19 Stücke haben. Lüer braucht für die neue Platte noch ein paar zündende Ideen, die Zeit wird knapp.

 

Zum Interview erscheint er mit überraschend langen Haaren, »habe ich extra heute morgen gewaschen«.

 

StadtRevue: In vielen Stücken von euch geht es um Typen, bei denen Anspruch und Wirklichkeit, stolze Selbstwahrnehmung und peinliches Auftreten in der Wirklichkeit auseinander fallen. Auf »Polonäse Hüftprothese« reflektierst Du über einen kuriosen Auftritt von Brian Wilson auf dem Bonner Museumsplatz. Wilson und die Beach Boys waren ja einerseits megamäßig erfolgreich, andererseits ist Wilson eine sensible Künstlerseele, ein ambitionierter Typ.

 

Claus Lüer: Vor allem ein völlig kaputter Typ. Im Publikum standen pensionierte Lehrer, klatschten neben dem Takt, und auf der Bühne hielt sich Wilson schwankend mit völlig starrem Blick. Ziemlich unförmig und mittlerweile ganz ohne Hals. Der war gar nicht anwesend und saß unbeteiligt vor seinem Keyboard, irgendwann hat er sich einen Bass umgeschnallt und so ein bisschen rumgespielt. Das Instrument war aber gar nicht eingestöpselt.

 

Das Tragische daran ist, dass Wilson darum weiß: Es gibt diese Interviews, wo er bereitwillig zugibt, dass ihm sein Leben völlig entglitten ist und er viel zu viel von den falschen Drogen geschluckt hat. Wilson ist kein Zombie, aber die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Bild als Star und großer Künstler und dem Abgründigen, dem irrsinnigen Chaos, das sich dahinter verbirgt, ist riesig. Und das ist doch sozusagen Generalthema vieler Chefdenker-Stücke.

 

Beim Texten gehe ich aber nicht mit der Intention ran, diese Diskrepanz zu beschreiben. Ich weiß selbst nicht immer, worum es in den Texten geht. In dem Song für Brian Wilson geht es nur unter anderem um seinen Abgrund. Wilson hatte damals eine neue Platte gemacht, die sich in nichts von den früheren Alben unterscheidet. Aber sobald die Band ein aktuelles Stück anstimmte, war die Stimmung im Publikum unten, obwohl die Musik gar keinen Anlass für Verstimmung oder Irritation geboten hat. Dann kam endlich »Good Vibrations«, das Publikum stand auf, klatschte falsch, setzte sich wieder hin. Interessante Beobachtung, vor allem wenn man den völlig desinteressierten, ins Nichts blickenden Wilson vor Augen hat. Die Leute feiern etwas ab, was es gar nicht mehr gibt.

 

»Ich höre viel Musik, wenn ich zu Hause bin, und ich bin viel zu Hause«

 

Viele eurer Songs sind eine Apologie des Kaputten. In »Schlau in die Krise rein, schlau wieder raus« singst Du von einem Hartz-IV-Empfänger, dessen Dasein immerhin den Vorzug genießt, dass es von der nächsten Krise nicht mehr hart getroffen werden kann. Viel tiefer als auf Hartz-Niveau kann man nicht fallen, während die vermeintlich Glücklicheren mit ihren Scheißjobs im Zuge der Krise arbeitslos werden und auf dem nicht abbezahlten Reihenhaus und zig Konsumschulden sitzen bleiben.

 

Bei dem Stück habe ich allerdings das, was ich eigentlich sagen wollte, gar nicht hinbekommen. Manchmal habe ich eine Idee, worauf ein Song hinauslaufen soll, aber der Text entwickelt sich völlig anders, und meistens habe ich dann auch keine Lust mehr, ihn noch auf die Ursprungsidee hinzubiegen. Bei »Schlau in die Krise rein, schlau wieder raus« sollte es eigentlich um die Kinder der Bänker gehen, die entlassen worden sind oder demnächst abgesägt werden. Was machen diese Kinder, wenn ihre Eltern arbeitslos sind? Müssen die jetzt ihr Drittauto verkaufen? Das sind Dramen, die sich da abspielen. Aber irgendwie bringt der Song das nicht mehr so rüber. Wenn ich schreibe, dann lauert in naher Zukunft meistens irgendein Aufnahmetermin. In drei Tagen gehen wir ins Studio, bis dahin müssen die Stücke stehen. Die Zeit ist einfach knapp, und wenn mal ein Text fertig ist, sage ich mir: Okay, muss reichen.

 

Deine Texte sind auf ihre Weise sehr wirklichkeitsgesättigt. Wovon wirst Du inspiriert, wie kommst Du dazu, diesen Ausschnitt aus der Wirklichkeit zu wählen, aber nicht jenen?

 

Ich höre unheimlich viel Musik, wenn ich zu Hause bin, und ich bin viel zu Hause. Aktuell zum Beispiel amerikanische Schlager oder irgendwelche Jazz-Hits aus den 40er und 50er Jahren. Eigentlich höre ich alles, außer Deutschpunk und Chris Rea. Dazu versuche ich Zeitung zu lesen, ich kann mich dann aber meistens nur schlecht konzentrieren — weder auf das Zeitungslesen noch auf die Musik. Aber ich verbringe viel Zeit auf diese Weise. Ich bin ja Freiberufler, und das ist der wesentliche Inhalt meiner Arbeit, jedenfalls derzeit. Während dieser Zeit geht in mein Hirn viel rein und viel wieder raus, aber ein bisschen bleibt hängen, ein paar Textideen und musikalisch zwei, drei Harmonien. Mit diesem Material gehe ich in den Proberaum, und wir machen einen Song daraus.

 

»Die Türen eingetreten, die Waschbecken abgerissen, die Spiegel zertrümmert«

 

Das hört sich nach überwiegend einsamer Arbeit an. Würdest Du sagen, dass ihr euch in einer Szene bewegt, in einem bestimmten Umfeld von Läden und befreundeten Bands?

 

Irgendwie schon. Die meisten Auftritte laufen in Autonomen Jugendzentren. In Jugendzentren, die für gewöhnlich städtisch finanziert sind, geht aber immer seltener was. Die Kosten sind denen einfach zu hoch, das können die Veranstalter den städtischen Trägern gegenüber immer weniger rechtfertigen. Die Türen sind kaputt getreten, die jungen Leute reißen die Waschbecken ab und zertrümmern die Spiegel. Das ist einfach teuer.

 

Interessant, dass das heute immer noch so ist. Ein Freund von mir hat 1985 Black Flag in Bonn erlebt, die Kids rissen die Kloschüsseln raus und haben sich nach dem Konzert noch eine Straßenschlacht mit den Bullen geliefert.

 

Ja klar, da gibt es eine Kontinuität. Manche Läden müssen sowieso mal renoviert werden. Die Frage ist, ob die Renovierung von vorneherein für die Zeit nach dem Chefdenker-Konzert geplant war. Meistens nicht.

 

» Es geht beim Randalieren weniger um Aggression als um Tradition«

 

Woher kommt diese aufgepeitschte Stimmung? Auf Techno-Partys, wo die Musik auch irre pushend sein kann, passiert das doch nicht.

 

Also ich persönlich würde eher auf einer Techno- als auf einer Punk-Party randalieren. (lacht) Ich weiß gar nicht, ob die Stimmung so aufgepeitscht ist, die Punk-Szene ist doch überwiegend ruhig und friedlich. Es geht beim Randalieren vielleicht weniger um Aggressionen als um die Tradition: Punk und Randale gehören historisch zusammen, daran muss das Publikum halt symbolisch immer wieder erinnern, bei jedem Konzert. Und wenn es nicht das Publikum macht, dann machen es die Veranstalter selbst. Ich erinnere mich an einen Veranstalter in Hannover, der seinen eigenen Laden kurz und klein geschlagen hat, danach ist er rausgeflogen. Der Typ ist studierter Sozialpädagoge, wir hatten auch einige gute Gespräche mit ihm. Nach dem Konzert waren wir mit ihm noch feiern und haben ihn frühmorgens in einen Einkaufswagen gelegt.

 

Einkaufswagen?

 

Genau, der hat geschlafen, und wir haben ihn dann zum Laden zurückgerollt, wo wir auch unsere Schlafplätze hatten. Wir haben ihn dann geweckt, er sprang auf und trat direkt erst mal die Tür ein. Das musste einfach sein, hat er später gesagt. Der war schon Mitte dreißig.

 

»Wir werden gesiezt, auch vom Assel-Punk mit Iro und Hundehalsband«

 

Habt ihr ein junges Publikum?

 

Gemischt. Es kommen viele Kiddie-Punker, aber auch eine ganze Reihe von alten Bekannten, die schon bei meiner alten Band Knochenfa­brik vorne standen. Da freue ich mich immer ganz besonders. Aber die Jugend überwiegt. Wir werden zunehmend gesiezt, nach den Konzerten kommen die Assel-Punks mit ihren Iros und Hundehalsbändern und fragen höflich: »Können Sie uns vielleicht ein Autogramm geben?« Überhaupt nicht ironisch! Bei einem Konzert bin ich zur Kasse geschlappt, um unsere Gästeliste abzugeben, und die junge Dame meinte, »Bitte sprechen Sie das erst mal mit der Band ab«. Die hielt mich für einen Sozialarbeiter.

 

Du meintest mal, ihr würdet zwar Punk spielen, aber euch selber kaum in diesem Genre auskennen.

 

Ja, das sind bescheidene Kenntnisse. Wir finden es oft anstrengend, morgens nach den Konzerten beim Veranstalter um den Frühstückstisch herum zu sitzen und dann direkt wieder Deutschpunk zu hören. Uffta-uffta ab zehn Uhr. Ich weiß gar nicht, wie die Leute das aushalten, die sind ja auch keine zwanzig mehr, sondern eher in unserem Alter. Ihre riesige Plattenwand besteht ausschließlich aus Deutschpunk.

 

»Der Verhaltenskodex im Punk ist immer noch sehr rigide«

 

Die schwärmen Dir dann von einer geilen Platte aus dem Jahr 2005 vor, die aber nur sie kennen.

 

Noch nicht mal das. Es geht da nicht um Verfeinerung oder eine Anhäufung von Besserwisserei. Es geht schlicht um Deutschpunk, Qualitätsschwankungen spielen keine Rolle. Die ziehen das eisern durch, am Frühstückstisch läuft Deutschpunk, im Auto läuft es, in ihrem Laden läuft es, vor dem Soundcheck, nach dem Soundcheck, in der Kneipe, beim Absacker zu Hause. Ich weiß nicht, ob ich das toll oder schrecklich finden soll. Ich habe auf jeden Fall großen Respekt davor.

 

Zu eurer eigenen Musik. Was auffällt ist, dass ihr euch einen Leadgitarristen leistet, so steht es auch auf eurer Homepage. Dagegen ist — nicht nur im Punk — ein regelrechter Anti-Gitarren-Diskurs hegemonial: keine Soli, Gitarre ausschließlich als weiteres Rhythmusinstrument einsetzen, klanglich möglichst stark verfremdet. Aber bei Chefdenker drängelt sich die Rockgitarre immer wieder in den Vordergrund.

 

Viele Gitarrensoli im Metal und im Hardrock bestechen dadurch, dass der Gitarrist nicht auf die Band eingeht, es existiert überhaupt kein Bezug zum Song, das ist pures Gewichse. Genau das macht unser Leadgitarrist auch. Das Finale von Metal-Konzerten ist ja so ein großes Gewichse. Alle turnen für sich rum, und jeder muss noch mal beweisen, dass er der Geilste ist. Das ist auch unser Ding, das favorisieren wir. Das Publikum reagiert zwiespältig, wir kriegen schon öfters den »Rocker«-Vorwurf zu hören. Klar, der Gitarrist post halt wie bescheuert, der kann das aber auch! Ich finde das lustig. Es ist doch wichtig, dass man auf der Bühne selber ein bisschen Spaß hat. Insgesamt ist der Verhaltenskodex im Punk immer noch sehr rigide, gelobt wird grundsätzlich nicht, was in Ordnung geht, aber die Kritik setzt schon ein, wenn ich die falschen Schuhe anhabe.

 

Die Punks haben ja auch leichtes Spiel mit euch, ihr seht gar nicht aus wie die.

 

Stimmt. Früher hatten wir Iros, die waren aber auf Dauer nicht mit unseren damaligen Brotjobs zu vereinbaren.

 

Aber Iros waren doch auch mal wahnsinnig angesagt.

 

Kommt auf den Job an.