Sommerabend im Volksgarten, 1987 — ein Bild aus dem fotografischen Rückblick der Tagnacht-Jubiliäumsausgabe, Foto: Manfred Wegener

»Auch Bio-Fleisch kann man verbrutzeln«

Am 26. April erscheint im StadtRevue Verlag die mittlerweile 25. Auflage des Gastro Guides TAGNACHT. Ein Gespräch über Gastronomiekritik, Bio-Produkte und überwürzte Imbiss-Suppen

Gastronomiekritiker, spottete einst der französische Spitzenkoch Paul Bocuse, seien wie »Eunuchen«, die »selber nichts könnten«...

 

Christian Meier-Oehlke: Ja, ja, lustig. Aber genauso könnte man fragen, welcher Sportreporter schon mal Bundesliga gespielt hat. Gute Kenntnisse vom Kochen, den Zutaten, den Zubereitungsarten und auch vom Wein muss man haben. Aber zur Beurteilung ist es besser, hundertmal Bouillabaisse oder Saltimbocca gegessen zu haben, um vergleichen zu können, statt immer nur seine eigene Version zu verfeinern.

 

Manche sagen, die Geschmäcker seien halt verschieden...

 

Meier-Oehlke: Auch wenn die Geschmäcker verschieden sind. Es gibt Garpunkte, Zubereitungsmethoden und man kann sagen, ob eine Suppe Aroma hat oder nur nach Sahne und Brühwürfeln schmeckt.

 

Simone Scharbert: Letztlich geht es darum, die Restaurants an ihrem eigenen Anspruch zu messen. Wenn jemand sagt, »Bei mir gibt’s nur Schnitzel«, und ich als Testerin mag keine Schnitzel, kann ich dennoch beurteilen, ob das Ergebnis gut oder schlecht ist, ob es dem eigenen Anspruch genügt oder eben nicht. Beim Wein ist das nicht viel anders.

 

Nun könnte man einwenden, dass Ihr immer nur eine Momentaufnahme erlebt. Vielleicht ist anderntags die Dorade rechtzeitig vom Grill genommen worden, vielleicht war am Tag zuvor die Suppe weniger überwürzt...

 

Scharbert: Wir testen jedes Jahr alle Läden neu. Wenn bei einem Restaurant etwas gegenüber dem Vorjahr extrem abweicht, gehen wir kurze Zeit später noch mal hin. Grundsätzlich ist in einem gut geführten Restaurant die Qualität aber jeden Tag verlässlich.

 

Meier-Oehlke: Klar kann mal etwas in der Küche oder im Service schiefgehen, aber wenn an einem Tag der Fisch aus der Tiefkühltruhe kommt und die Klöße aus der Packung, wird das auch am anderen Tag so sein. Letztlich ist das eine Frage des Preises, deshalb bewerten wir ein einfaches Lokal mit Schnitzel für 6,90 Euro anders als ein Lokal mit Anspruch, wo man dafür vielleicht 18,90 zahlt.

 

Ihr seid im Schlussspurt für die neue Ausgabe, habt die meisten Restaurants, Kneipen und Bars bereits getestet. Welche Trends konntet Ihr diesmal feststellen?

 

Scharbert: Wir merken schon, dass Produkte aus biologischem Anbau und fair gehandelte Getränke für viele Gäste immer wichtiger werden. Bio-Gerichte stehen jetzt viel häufiger auf den Karten, sogar in klassischen Brauhäusern.

 

Meier-Oehlke: Aber auch ein gutes Stück Bio-Fleisch kann man verbrutzeln ... Gute Produkte sind die eine Sache, ihre richtige Zubereitung die andere.

 

Simone: Mir fällt zudem auf, dass sich viele Leute immer weniger Zeit zum Essen nehmen. Zwei Gänge in einer Stunde und dann sofort die Rechnung. Das hat mit Ess­kultur nichts zu tun und kann für alle Beteiligten ganz schön anstrengend sein.

 

Simone, Du verantwortest im StadtRevue-Verlag als Redakteurin auch das Magazin Immergrün, das sich mit ökologischen Aspekten von Ernährung auseinandersetzt. Nach all den Debatten um Fleischskandale könnte man glauben, der Trend gehe zu fleischfreier Ernährung. Wir wundern uns, dass es so wenig vegetarische oder vegane Lokale in der Stadt gibt...

 

Scharbert: So wenige Restaurants mit vegetarischen und veganen Angeboten gibt es mittlerweile gar nicht mehr, man kennt sie nur oft nicht. Deswegen haben wir in diesem Jahr erstmals wieder eine eigene Rubrik dafür eingeführt. Mich erstaunt vielmehr, dass viele Gastronomen unter vegetarischer Küche noch immer Kässpätzle oder überbackenen Camembert verstehen. Ob sich das jemals ändert? 

 

Vor uns liegen alle bisherigen 24 TAGNACHT-Ausgaben. Was hat sich für die Redaktion in den letzten Jahren geändert?

 

Meier-Oehlke: In den ersten Ausgaben Ende der 80er Jahre gab es von unseren Vorgängern bloß kurze Kommentare. Jetzt wird alles sehr genau unter die Lupe genommen. Wir sind zurzeit sehr viel unterwegs.

 

Scharbert: Es ist lustig zu vergleichen. Viele Trends von damals sind längst wieder passé: Billardkneipen sind verschwunden, genauso wie Balkan-Restaurants mit »internationaler« Küche oder argentinische Steakhäuser. Dafür gibt’s jetzt Bubble-Tea-Cafés und schicke Sushi-Bars.

 

Meier-Oehlke: Auch mexikanisches Bier, mit Honig gratinierter Ziegenkäse, Zander unter der Kartoffelkruste findet man zum Glück gar nicht mehr oder nicht mehr so häufig. Aber Merlot aus Chile gibt’s leider immer noch! Warum zum Teufel transportiert man schlechten Wein um die halbe Welt?

 

Was würdet Ihr — abgesehen von Merlot aus Chile — ­lieber heute als morgen von den Karten Kölner Restaurants streichen?

 

Meier-Oehlke: Überwürzte asiatische Imbiss-Suppen und Ratatouille.

 

Scharbert: Warum denn Ratatouille?

 

Meier-Oehlke: Das hat nie Aroma, schmeckt nie gut.

 

Scharbert: Ich fände super, wenn Gerichte mit Fleisch aus Massentierhaltung oder bedrohten Fischen komplett von den Karten verschwänden. Dafür sollten viel mehr Gastronomen Wert auf regionale und saisonale Produkte legen.

 

Braucht man im Zeitalter von Internetplattformen überhaupt noch Magazine wie TAGNACHT?

 

Meier-Oehlke: Ich frage mich eher, wofür man diese Internetplattformen braucht? Da kann jeder Depp anonymisiert seinen Senf zu irgendwas abgeben, auch wenn er gnadenlos keine Ahnung hat. Bei uns durchläuft alles die Diskussionen in der Redaktion, wir kennen die meisten Restaurants und Kneipen ja schon viele Jahre. Diese Erfahrungen sind für die Einschätzungen auch wichtig.

 

Scharbert: Außerdem bietet unser Magazin noch viel mehr: So haben wir von Jahr zu Jahr andere Illustratoren und auch wechselnde Autoren, sodass jedes Heft einen ganz eigenen Blick in Kölns Gastrolandschaft gibt. Und wir beobachten auch die Entwicklung in den Vierteln?...

 

Welches sind eigentlich eure Lieblingsgerichte?

 

Scharbert: Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat!

 

Meier-Oehlke: Heringsstipp mit Pellkartoffeln!

 

Das klingt ja simpel?...

 

Scharbert: Ein gutes einfaches Gericht ist oft viel besser als der berühmte halbe Hummer unter der Trüffelkruste oder aufwändig annoncierte Gerichte mit exotischen Zutaten, Schäumchen und anderem Firlefanz.

 

Seid Ihr beim Testen inkognito unterwegs?

 

Scharbert: Ja, das ist uns wirklich wichtig! Wir zahlen auch immer selbst und kündigen uns nicht an.

 

Meier-Oehlke: Manchmal haben wir aber den Eindruck, dass Gastronomen Lunte riechen. Etwa, wenn man wissen will, aus welchen Trauben die fränkische Weißwein-Cuvée besteht. Oder bei Nachfragen zu seltenen toskanischen Schweinerassen?...

 

Immer schön essen und trinken gehen, der Verlag zahlt — gibt es einen besseren Beruf als den des Gastronomie­kritikers?

 

Meier-Oehlke: Zumindest keinen, wo ich eine Chance hätte, eine Stelle zu bekommen.

 

Scharbert: Natürlich nicht! Es geht auch um eine ganz bestimmte Art und Weise, die Stadt für sich selbst zu erleben. Was bleibt, was verändert sich, wie verhalten sich die Leute? Ich mach’ das gern, auch wenn ich mit meinen Kindern ganz schön viel Zeit in Cafés und Restaurants verbringe und ziemlich oft Dinge esse, die ich freiwillig nicht bestellen würde. Ganz abgesehen davon, dass meine Kinder mittlerweile anfangen meine eigenen »Kochkünste« zu beurteilen.