Basislager im »Halli«: Michael Kohtes, Foto: Manfred Wegener

Die Ränder der ­großen Stadt

Michael Kohtes hat ein Jahr lang Tagebuch in Köln geführt

 

»Ich wollte wissen: ›Was sind das für Zeiten, in denen wir leben?‹ Am Ende des Jahres hatte ich zumindest eine Vorstellung, in welcher Stadt ich lebe.« Michael Kohtes sitzt im Hallmackenreuther und schaut wie zur Vergewisserung noch mal aus der großen Fensterfront. Auch das »Halli«, wie er es nennt, spielt eine Rolle in seinem soeben erschienenen Buch »365 Tage. Ansichten von K.« Kohtes wohnt gleich um die Ecke. Das Belgische Viertel ist so etwas wie das Basislager seiner Wanderung.

 

Ein Jahr lang hat der Journalist und Autor Tagebuch in Köln geführt. Er ist mit Kamera und Notizbuch durch die Stadt gelaufen, hat in Spielhallen gezockt, Karneval gefeiert, ist mit dem Fahrrad ins »Vorstadt-Oklahoma« nach Weiden geradelt, hat mit dem FC gezittert, seinen Onkel im Wohnstift besucht, den »rabengesichtigen Rentnern« in der »Kaffebud« zugehört und ist peinlich berührt gewesen bei der Verleihung des deutschen Fernsehpreises. »Es ging mir von Anfang an um einen radikal subjektiven Blick.«

 

Herausgekommen ist eine wilde Collage aus persönlichem Alltag, philosophischen Aperçus, Zeitungsschnipseln und Spitzen gegen die Kölsche Obrigkeit in ihren unterschiedlichsten Ausformungen. Die fragmentarische Form des Buches passt zu seinem Subjekt: »Das Prinzip Collage wird einem in Köln architektonisch ja ständig vor Augen geführt«, sagt Kohtes.

 

»365 Tage« hat sehr komische Momente (vor allem die Fotos tragen dazu bei), der Grundton ist jedoch ein melancholischer. Sein Blick gilt besonders den Randexistzenzen, den Marginalisierten. Den Local Heroes, die keiner kennt. Dem »levantinischen Männlein im Charlie-Chaplin-Outfit« aus dem Belgischen Viertel. Oder Dieter, dem Obdachlosen mit der Privatbibliothek im Einkaufswagen.

 

Dieser Fokus ist ein Zufall, zieht sich vielmehr wie ein roter Pfaden durch Kohtes bisheriges Wirken. Er hat über Boxer geschrieben, über Glücksspieler und über Drogenrausch. »Ich habe eine Affinität zu den Rändern der großen Stadt, zu den Milieus jenseits der bürgerlichen Anständigkeit«, sagt er.

 

Die erinnerungswürdigsten Stellen allerdings sind die Begegnungen mit der kölschen Nachbarin Frau Miebach. Auch, weil ihr Auftauchen einen kathartischen Effekt hat. Wenn sie über die »Mömmesfresser« vom Film schimpft, oder sich über »dä decke Pitter« echauffiert, stellt man fest: ist ja alles gar nicht so schlimm.

 

Da ist es auch zulässig, dass sich Kohtes bei ihr eine kleine Ausnahme in seinem Streben nach Authentizität erlaubt hat. Das Vorbild für Frau Miebach lebt nicht wie im Buch bei ihm im Haus, stattdessen ein paar Straßen weiter. »Aber die musste ich einfach drin haben.«