Foto: Manfred Wegener

Bye, bye Bandsalat

Die Ära der Kassette ist vorbei — das Hörspiel wird heute anders präsentiert:

Seit zehn Jahren sorgen Live-Hörspiele für ausverkaufte Bühnen

Ist es noch normal, wenn man Jugendkrimis lauscht, obwohl man längst keine 13 mehr ist? Anscheinend schon, denn die Anzahl der »Kassettenkinder« unter den Erwachsenen wächst stetig.

 

Im Keller verstaute Koffer mit den klingenden Abenteuern aus der Serienwelt von »Fünf Freunde« oder »Die Drei ???« werden hervorgekramt, man hört die alten Kassetten beim Aufräumen oder Autofahren oder nutzt sie »als beste Einschlafhilfe der Welt«, wie ­Oliver Rohrbeck sagt.

 

Der Synchronsprecher leiht seit der ersten Folge »Der Superpapagei« aus dem Oktober 1979 Justus Jonas, dem Chef der legendären Juniordetektive “Die Drei ???« aus der fiktiven Küstenstadt Rocky Beach in Kalifornien, seine Stimme. Allein von dieser Hörspielreihe sollen mehr als 30 Millionen verkauft worden sein.

 

Kassette seit 2012 aus dem Programm

 

Doch seit Januar heißt es nun »Bye bye, Hörspielkassette« — nie wieder den Bleistift in eins der beiden Löchern stecken und mühsam den Bandsalat bekämpfen, bis einem die Finger weh tun. Nach mehr als 30 Jahren hat das Hörspiel-Label Europa die Kassette aus dem Programm genommen.

 

Bis dato wurden die Geschichten analog auf alten Tonbandmaschinen im Hamburger Studio produziert, von der Grande Dame des deutschen Hörspiels ­Heidekine Körting. Jetzt lassen sich Klassiker wie »Hui Buh« oder »TKKG« nur noch auf CD kaufen oder als mp3 downloaden. Lediglich »Die drei ???« des US-amerikanischen Autors Robert Arthur gibt es noch für Sammler auf Kassette.

 

1963 noch eine kleine Sensation

 

Dabei wird die Geburtsstunde der Audio-Kassette am 28. August 1963 auf der Berliner Funkausstellung wie eine kleine Sensation erlebt. Der neue Tonträger löst das empfindliche Vinyl ab, die Geschichten werden mobil. Während sich bisher Kalle Blomquist, Winnetou oder Tom Sawyer nur vor dem elterlichen Plattenspieler im Wohnzimmer anhören ließen, können sie nun im Autoradio abgespielt werden, ab Mitte der 70er Jahre sogar im Kinderzimmer.

 

Dazu musste natürlich ein Kassettenrekorder her, wie sich David Becher, bekennender Hörspielfan und Schauspieler beim Wuppertaler Playbacktheater, erinnert: »Den konnte man sich aufs Kopfkissen legen, das war mit dem Plattenspieler ja schwierig.«

 

Der ganz große Vorteil: Die Kassette ist »unkaputtbar« — ein Umstand, den das Label Europa der Hamburger Miller International Schallplatten schnell als das große Geschäft wittert. Ab 1975 bringt das Unternehmen kommerzielle Kinder- und Jugendhörspiele auf Kassette in Massen auf den Markt. Zwar bieten auch andere Labels wie Maritim oder Karussell Hörspiele an, doch keines produziert so billig wie Europa.

 

Die Niedrigpreisproduktionen erfordern damals — wie heute — leicht konsumierbare Unterhaltungsstoffe für Kinder, am besten solche, die zuvor auf Schallplatte oder als Buch für hohe Verkaufszahlen gesorgt haben. Es liegt also nahe, dass die Labels Kindermassenliteratur auswerten und Europa früh Geschichten von Enid Blyton für Hörspielproduktionen nutzt.

 

Expansion und Merchandising - bis das Privatfernsehen kommt

 

In den 70er Jahren wird das Sortiment lange Zeit von Begleitprodukten zu den damals beliebten TV-Zeichentrickserien dominiert: »Biene Maja«, »Heidi« oder »Pumuckl«. Neue Zielgruppen müssen erschlossen werden.

 

Bei den 8- bis 13-Jährigen setzt man auf Abenteuer-, Fantasy- und Kriminalserien. Blytons »Fünf Freunde« erscheinen ab 1978 bei Europa. 1979 erwirbt Miller International die Hörspielrechte an Alfred Hitchcocks »Die drei ???«,  für die sich der amerikanische Verlag den Namen des berühmten Filmregisseurs als Markenzeichen gesichert hatte. Zwei Jahre später folgt 1981 »TKKG« als Hörspieladaption der bereits populären Kinderbuchserie.

 

Für fünf Mark gibt es die lustig bunt designten Kassetten im Supermarkt auf dem Weg zur Kasse. Insbesondere die Jugendkrimiserien werden zu Highlights im orangefarbenen Kassettenrondell und beim Tauschen auf dem Schulhof. Erst als Ende der 80er Jahre das Privatfernsehen auf Sendung geht und Computerspiele auf den Markt drängen, ebbt der Hörspielboom ab.

 

Zehn Jahre später brechen für die marktführenden Niedrigpreislabel die Kernzielgruppen weg. Die Gruppe der 9- bis 13- Jährigen wendete sich vom Kinderhörspiel ab. Spannung und Action suchen sie nun bei Zeichentrickserien der privaten Fernsehsender oder bei Computer- und Videospielen.

 

Alles scheint möglich: Hörspiele auf der Bühne

 

Dennoch gehören die Abenteuer der Hörspielhelden aus dem Hause Europa zum kollektiven Unterbewusstsein einer ganzen Generation und prägen deren Hörerlebnisse bis heute. Schauspieler David Becher zeigt sich immer noch erstaunt ob der überwältigenden Resonanz, wenn er mit seinen Wuppertaler Kollegen die alten Jugendhörspiele als Vollplaybacktheater auf die Bühne bringt.

 

Die Gruppe führt lippensynchron eine Hörspiel-Kassette als Theaterstück auf. »Uns war zunächst nicht bewusst, was es da für eine große Fanmenge gibt. Die Leute im Publikum haben gesehen. »Ich bin nicht der einzige Bekloppte, hier sitzen noch 600 andere, die diese Hörspiele auch noch hören.« Man merkte: Das brach so richtig aus ihnen heraus. Sie hatten das Bedürfnis, über ihre Lieblingsfolge zu sprechen und so weiter. Das war fast wie eine Outing-Welle.«

 

Hörspielgenuss als Kollektiverlebnis wie bei den Bühnenveranstaltungen des Wuppertaler Vollplaybacktheaters haben sich in den letzten zehn Jahren zu einer neuen, überaus erfolgreichen Form der Unterhaltung gemausert. Das Event boomt.

 

Darauf hat natürlich auch das Label Europa reagiert. Mit dem Konzept »Europa on Tour« führen die Sprecher der »Drei ???« eine Folge live vor einem Riesenpublikum auf. In Köln füllte das Trio bei der letzten Tour »Der seltsame Wecker 2009 — Live and ticking« die Lanxess-Arena.

 

Auch die Record Release Parties der Kult­serie, wie demnächst anlässlich der 154. Folge »Botschaft aus der Unterwelt« im Gloria — sind stets ausverkauft. Organisiert werden die Veranstaltungen von Oliver Rohrbecks Berliner Label »Lauscherlounge«. Rohrbeck selbst führt durchs Programm.

 

Ob Kunst oder Kommerz: Live-Hörspiel als neues Format

 

Es klingt plausibel, wenn sein Kollege Andreas Fröhlich, bekannt als Bob Andrews und bei »Die drei ???« »zuständig für Recherche und Archiv«, prognostiziert: »Die Zukunft des Hörspiels wird in allererster Linie live sein, wie in der Musikindustrie werden Künstler aus Hörspielkreisen mehr touren.«

 

Das Hörspiel hat längst einen Ort außerhalb der eigenen vier Wände oder des Radioprogramms gefunden. Auch jenseits nostalgischer Live-Events zeigt das Hörspiel vor allem eine neue Ausprägung: Dem Hörerleben eine optische Dimension zu verpassen liegt im Trend. Es findet im öffentlichen Raum oder auf der Theaterbühne statt, funktioniert als Grenzgang zwischen Hörspiel und Theater.

 

Beispiele gibt es zuhauf: im vergangenen Jahr das »Archiv der zukünftigen Ereignisse«, welches das interdisziplinäre Regie- und Autorenduo Hofmann&Lindholm als mobiles Hörspiel für den Kölner Stadtraum inszenierte. Oder das seit 2003 regelmäßig gespielte Live-Format zum Zuschauen »Kaminski on air« in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin.

 

Auch Oliver Rohrbeck veranstaltet mit seiner »Lauscherlounge« bundesweit zahlreiche Live-Hörspiele mit klassischen Stoffen von Dracula bis Dürrenmatt, über die er sich sehr freut, denn: »Die werden mittlerweile auch als eigenständige Kunstform wahrgenommen.« Genauso wie die Kassettenkinder von damals ist anscheinend auch das Hörspiel erwachsen geworden.