Tuff Gongs

Musik, Politik und Marihuana: Zwei sehr unterschiedliche Dokumentarfilme erzählen die Geschichten des ersten und des berühmtesten Rastas

 

Eigentlich sollte der Dokumentarfilm über Bob Marley schon zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag im Februar 2010 in die Kinos kommen, unter der Regie von Martin Scorcese. Doch der stieg – offiziell aus Termingründen – aus. Ein Jahr später warf auch Nachfolger Jonathan Demme in der Schnittphase wegen »künstlerischer Differenzen« mit den Produzenten das Handtuch. So kam es, dass das Projekt »Marley« am Ende bei Kevin Macdonald (»Der König von Schottland«, »Life in a Day«) landete, der es mit zweijähriger Verspätung dieses Jahr bei der Berlinale vorstellte.

 

Im offiziellen Presseheft von »Marley« steht von all dem nichts, es klingt gar so, als wäre das von Steve Bings Firma Shangri-La und den der Familie Marley eigenen Tuff Gong Pictures produzierte Filmporträt auf Ini­tiative Macdonalds entstanden. Auch die »völlige künstlerische Unabhängigkeit«, die Macdonald dort beschwört, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass »Marley« als offiziell vom Familien-Clan lizenziertes Biopic ein Werbefilm für die Hausmarke ist. Beschönigung gehört da zum Genre.

 

Dokumentarische Jubelprosa: »Marley«

 

So werden von Bob Marleys schwerer Kindheit als Sohn einer von einem weißen Kolonialbeamten geschwängerten und sitzen gelassenen jungen Frau bis zu seinem frühen Krebstod zwar die bekannten Lebensstationen in üblicher US-Manier handwerklich solide abgehandelt, inhaltlich kommt der Film aber über dokumentarische Jubelprosa nicht hinaus.

 

Die – vorsichtig kritischen – Stellungnahmen von Ehefrau Rita und Kindern zum brachliegenden Familienleben des Workaholics und Womanizers haben nur Alibifunktion, besonders der Blick aufs Geschäftsgebaren fehlt.

 

Am interessantesten ist die Deutung eines wesentlichen Impulses für Marleys Leben durch die frühe Diskriminierung als »half-breed«, als Mischling, die Marley in Identitätskonflikte stürzte. Vorteil des Produktionskontextes ist, dass für die gut zweieinhalb Stunden ohne Grenzen im musikalischen Bestand gewühlt werden konnte.

 

Auch sonst ist kulinarisch nichts gegen den Film zu sagen, der mit einem herrlichen Kameraflug über nebelverhangene Hügel in Marleys Geburtsdorf Nine Miles beginnt. Die prächtigen Kostüme der befragten Rasta-Kollegen sind auch großartig, doch die Kämpfer gegen das System Babylons wirken wie ausgestellte, traurige Exoten in einem Film, den genau dieses System treibt.

 

Als »Tuff Gong« (tougher als Gong) hat sich Marley angeblich schon als Kind selbst bezeichnet. Diesen »Gong« gab es wirklich, er heißt Leonard Percival Howell. Auf seine Spuren begibt sich der Dokumentarfilm »The First Rasta«, der einem fast konträren kulturellen Kontext entspringt.

 

Fast vergessenes Kulturgut: »The First Rasta«

 

Regisseurin Hélène Lee ist eine französische Spezialistin für jamaikanische Kultur und hat schon vor zehn Jahren ein Buch über Howell, den ersten Rasta veröffentlicht. Er hatte in den frühen Vierzigern die erste Rasta-Gemeinde auf Jamaika gegründet. Heute ist er fast vergessen, nur im Namen von Marleys Produktionsfirma und bei seinen Jüngern lebt sein Mythos in verklärten Erinnerungen fort.

 

Der 1898 geborene Howell führte ein bewegtes Leben. In den 20er Jahren bereiste er als Seemann die Welt, er erlebte den Kanalbau in Panama, besuchte die postrevolutionäre Sowjet­union und New York, wo er in Harlem das neue schwarze Selbstbewusstsein kennenlernte und Marcus Garvey, den streitbaren Gründer der panafrikanischen Bewegung, ebenfalls ein jamaikanischer Migrant.

 

Dort kam er auch in Kontakt mit schwarzen Intellektuellen, die sich ähnlich wie später die Rastas durch eine Verbindung von Stolz auf die eigene Hautfarbe und Messianismus weltliche Befreiung und spirituelle Erlösung erhofften. Als 1930 Ras Tafari Makkonen als Haile Selassie zum äthiopischen Kaiser inthronisiert wurde und Howell ihn zum neuen Messias erhob, hatte die Rasta-Bewegung ihren Ursprungsmythos.

 

Nach seiner Rückkehr nach Jamaika gründete Howell in den grünen Hügeln oberhalb der Hauptstadt »Pinnacle«, die erste Gemeinde des neuen Glaubens, eine Kommune mit mehreren tausend »Rasta Men« und »Womyn«, die nicht nur wegen des großflächigen Anbaus von Marihuana unter permanentem Druck der Polizei standen, sondern auch in die politischen Händel der Insel gerieten. 1958 wurde Pinnacle nach einer Razzia geschlossen.

 

Howell starb drei Monate vor Marley, von ihm gibt es nur ein einziges Filmdokument: ein Video seiner Beerdigung. Hélène Lee macht zusammen mit Ko­regisseur Christophe Farnarier aus dieser Not eine Tugend und garniert ihren Film neben Interviews mit Nachfahren und Weggefährten mit klug komponierten Bildstrecken aus Archivbildern und Spielfilmen, die den Zeitgeist von Industrialisierung und revolutionärem Aufbruch suggestiv beschwören, während ein empathischer Erzähltext mit viel Deutungslust historische Zusammenhänge erläutert.

 

Man merkt, dass es der Regisseurin an Raum fehlt, die gesammelte Fülle ihres Wissen in den 85 Minuten unterzubringen. Resultat ist eine Verdichtung von Informationen, die den Zuschauer manchmal zu überfordern droht. Doch sind das nur kleine Makel an einem Film, der zweierlei ist: dringliche Forschungsarbeit mit letzten Zeitzeugen sowie lebendige Reminiszenz an die kämpferische Entstehungsphase einer heute hauptsächlich kommerziell virulenten Bewegung.

 

The First Rasta (dto) F 2010, R: Hélène Lee, Christophe Farnarier, 85 Min. Start 26.4., Marley (dto) USA 2012, R: Kevin Macdonald, 144 Min.