Der elastische Mensch

Futur3 bringt die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal auf die Bühne

StadtRevue: Stefan H. Kraft und André Erlen, für euer neues Stück habt ihr euch einen Klassiker der empirischen Sozialforschung vorgenommen: »Die Arbeitslosen von Marien­thal«, eine Studie über die Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit auf ein Dorf in Oberösterreich während der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre. Warum?

 

Stefan H. Kraft: Uns hat die Frage interessiert, was folgt aus der Massenarbeitslosigkeit. Revolution oder Unruhen? In welche Richtung geht die Gesellschaft?

 

Welche Dimension hat die Studie?

 

André Erlen: Wissenschaftlich hatte man sich bis dato mit Arbeitslosen rein quantitativ beschäftigt: Wie viele gibt es, an welchem Ort, in welchem Alter? Oder es er wurden Sozialreportagen über einzelne Schicksale veröffentlicht. Was es nicht gab, war ein zahlenmäßig fassbares Bild und gleichzeitig ein Einleben in die Situation von Arbeitslosen. Die drei Wissenschaftler wollten einen sozialpsychologischen Tatbestand feststellen.

 

Des Einzelnen oder der Gemeinschaft?

 

Kraft: Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stand die arbeitslose Gemeinschaft und nicht das Einzelschicksal. Es ging darum, menschliche Zustände und Haltungen zu erfassen. In Marienthal ließ sich das Phänomen sehr gut beobachten, weil die Bewohner monoökonomisch von einer einzigen Textilfabrik abhängig waren. Zudem setzte in der ganzen Umgebung Arbeitslosigkeit ein, es gab für die Marienthaler also keine Alternativen – sie blieben arbeitslos.

 

Wie ist das Team um die Soziologen Paul Felix Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisel methodisch vorgegangen?

 

Erlen: Einerseits haben sie objektive Daten gesammelt. Zum Beispiel: Leihen die Ex-Arbeiter nach wie vor Bücher aus der Bibliothek? Treten sie aus Vereinen aus? Treten sie in politische Parteien ein? Und dann haben sie versucht aus dem direkten Kontakt Informationen zu gewinnen. Um »authentische« Antworten zu  bekommen, sind sie nicht als Wissenschaftler in Erscheinung getreten, sondern haben vorgegeben, für Kleiderspenden zuständig zu sein. So wurden sie in Häuser gelassen und haben protokolliert: Ist es aufgeräumt oder nicht, wirken die Menschen apathisch oder lebendig usw. Für jede Familie wurden Kataster-Karten angelegt.

 

Kraft: Eigentlich haben die drei versucht, ganzheitlich das Leben der Marienthaler zu dokumentieren. Unser Schauspieler Pietro Micci hat gesagt, die Studie ist eigentlich die Vermessung des Unglücks.

 

Zwar musstet ihr für euer theatrales Erkenntnisinteresse keine neue Methode entwickeln, aber dennoch eine spezielle Dramaturgie: Wie spielt man eine Studie? Ging es euch ein bisschen wie den Wissenschaftlern?

 

Kraft: Die Struktur unseres Stückes folgt der Dramaturgie der Studie, es gibt eine Bewegung von draußen nach drinnen. Zunächst stellen wir das Zahlenmaterial vor, dann wird die Geschichte des Dorfes beschrieben, man nähert sich dem Ort geografisch,  dann betreten wir ihn.

 

Erlen: Es wird zwei Räume geben. Einmal schaut der Zuschauer auf unser Marienthal, auf ein Modell, und dann geht er in eine simulierte Welt. Die Seherfahrung sowie die Beziehung zu den Schauspielern wird jeweils eine andere sein. Durch Informationen, wie Marienthal früher war und wie es jetzt ist, entsteht eine Spannung. Man will wissen, was haben die Wissenschaftler herausgefunden? Einmal kommt man dem Schicksal eines Marienthalers ganz nah, dann wird man aber mit den Auswertungen konfrontiert. Das bringt den Zuschauer wieder in die Distanz, da sich die Frage stellt, ob das mit der persönlichen Beobachtung übereinstimmt oder nicht. Es geht darum, ein großes Bild von dem zu malen, was sich empirisch nicht greifen lässt.

 

Die verringerte Geh-Geschwindigkeit der Bürger, weniger ausgeliehene Bücher – selbst auf den ersten Blick unwichtig erscheinende Daten belegen in der Studie die kollektive Passivität der Menschen. Lassen sich die Arbeitslosen von heute mit denen von damals vergleichen?

 

Kraft: Das heutige Prekariat ist noch eher eingebunden in den kulturellen Mainstream wie zum Beispiel das Fernsehen. Damals sind besonders die Väter komplett in die Isolation verfallen. Sie konnten nicht mehr auf die Straße, weil ihre Hemden und Hosen umgeschneidert wurden für ihre Kinder. Das Radio hatten sie verkauft, die Zeitung gekündigt. Die saßen in Unterhosen auf dem Sofa und sind nicht aus dem Haus gegangen.

 

Welche Schlüsse bleiben?

 

Erlen: Dass der Mensch Sinn im Leben braucht und nicht nur freie Zeit. Die Freizeit in unserem Kopf, die verdienen wir uns durch Arbeit, die sich hoffentlich durch Sinn, Identifikation und finanzielle Gegenleistung definiert. Marienthal zeigt den Super-Gau einer solchen Arbeitsidee. Das ist wie ein memento mori, das Negativbild unserer Utopie: unserer Arbeitswelt. Die Menschen versinken in einer passiven Haltung, in der Hoffnung, dass alles einfach irgendwann vorbei sein wird.

 

Kraft: Wie die Studie endet das Stück mit dem Kapital »Widerstandskraft«. Wie kann man diesem Schicksal widerstehen? Und letztendlich mit der Frage: Wie elastisch kann und sollte der Mensch sein?