Die Farbe der Dialektik

In seinem neuen Roman »Rot« zelebriert Uwe Timm

das Geschichtenerzählen

Scharlachrot, purpurrot, karminrot, feuerrot... Rot sei die Farbe mit den meisten Attributen, sagt Thomas Linde, der Ich-Erzähler in Uwe Timms neuem Roman. Linde muss es wissen, schließlich arbeitet er an einem Essay über diese Farbe, die einen großen Hof an widersprüchlichen Bedeutungen hat. »Rotwerden vor Scham. Rotsehen vor Wut.« Die Farbe der Emotionen ist jedoch zugleich die Farbe »der Macht, der Korrektur, der Abschreckung, aber auch der Verheißung.« Und natürlich gibt es die politische Konnotation: »Rot wie der Osten«.
Uwe Timms Romantitel ist programmatisch, und zwar genau in der Weise, wie Thomas Linde die Farbe sieht: vielfältig und widersprüchlich. In »Rot« geht es um Liebe und Leidenschaft, um Macht und Politik, um Irrtum und Verlust. Thomas Linde ist Mitte 50 und ein Alt-68er, wenn man so will. »Verehrte Trauergemeinde«, so wendet er sich immer wieder an sein Publikum, Linde ist Beerdigungsredner. Er bereitet die Rede auf Aschenberger vor, einen ehemaligen WG-Genossen und Kampfgefährten, den er allerdings seit Jahrzehnten aus den Augen verloren hatte. In Aschenbergers Nachlass findet er Sprengstoff, der für die Siegessäule vorgesehen war – für Aschenberger schlechthin das Symbol eines schwülstigen Nationalismus. Die Beschäftigung mit Aschenberger wird für Linde zur Konfrontation mit sich selbst. Doch Uwe Timm hat kein Requiem für einen alten APO-Kämpfer und unermüdlichen Anarchisten geschrieben, die Grundkonstellation des Romans ist ironisch.
Der Autor zelebriert ein überbordendes Erzählen ohne jegliche Kapitelunterteilung quillt eine Fülle von Geschichten geradezu aus dem Buch hervor. Wie in einem Musikstück allerdings gibt es verschiedene Tempi, Kontrapunkte, auch Dissonanzen, und Variationen immer wiederkehrender Themen. Eine immer intensiver werdende Liebe gehört dazu, die Angst vor dem Altern und das Geschäft mit dem Tod. Ein Hauptthema ist der Verlust der Empörung, die die Generation antrieb, die Timm bereits 1974 in seinem ersten Roman »Heißer Sommer« beschrieb. Der Autor stattet seinen Ich-Erzähler mit einigen autobiografischen Zügen aus und legt verschmitzt Fährten zum eigenen Werk. Das affirmative Bekenntnis zur DKP findet sich dort ebenso wie später die Distanzierung. Rot, die Farbe der Verheißung, aber auch der Korrektur. »Sie ist die dialektische Farbe«, sagt Thomas Linde, dessen Essay »eine Art Biografie« werden soll.
Aber diesem Essay gilt keineswegs das Hauptinteresse: Der Beerdigungsredner nimmt seine Profession ernst, er beschäftigt sich intensiv mit den Verstorbenen, an deren Grab er spricht, und so kreuzen zahlreiche Lebensläufe den Erzählfluss. Wobei dieser Redner einer ist, der auch dem Unspektakulären Glanz verleiht. Als »Hagiograph des Alltagslebens« bezeichnet er sich einmal. Eine Charakterisierung, die auch auf Uwe Timm zutreffen könnte.

Uwe Timm: Rot. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 430 S., 44,90 DM.
Am 29.8. liest Uwe Timm zur Eröffnung des Kölner Bücherherbstes um 20 Uhr im Literaturhaus. Am 24.9. tritt er ein weiteres Mal in Köln auf, Buntbuchhandlung, Ehrenstr. 86, 20.30 Uhr.