Der mutige Trottel

Karin Henkel begeistert mit Dostojewskis Idiot im Schauspielhaus

Wer ist Fürst Myschkin, die zentrale Figur in Dostojewskis Roman »Der Idiot«?
Er ist eine Frau. So will es Karin Henkel in ihrer Inszenierung des 900 Seiten starken Textes von 1868 am Schauspielhaus. Lina Beckmann spielt den Fürsten, der Epileptiker ist, wie Dostojewski es war. Wenn man Lina Beckmann dabei zusieht, hat man allerdings nicht den Eindruck, dass die Regisseurin mit ihrer Besetzungsentscheidung in erster Linie etwas über vermutliche »weibliche« Anteile des Myschkin behaupten will. 

 

Im Gegenteil, Lina Beckmann, die, um es gleich zu sagen, grandios »klein« ist in ihrer Rolle, so klein und unschuldig schuldig und sympathisch trottelhaft und liebenswert wie dieser Myschkin bei Dostojewski eben ist, Lina Beckmann spielt ihn sogar eher jungenhaft. Sie legt keinen Wert auf schönes Aussehen, ihre Klamotten grenzen ans Pennerhafte, schlabbern an ihr herum, die Buntfaltenjeans ist Inbegriff modischer Bewusstlosigkeit.

 

Nein, Karin Kenkel hat Beckmann vielleicht einfach besetzt, weil die beim Berliner Theatertreffen 2011 ausgezeichnete junge Schauspielerin sich auf uneitle Weise in die (vermeintliche) Psyche dieses Antihelden hineinversetzen kann. Nichts an diesem Spiel wirkt aufgesetzt oder selbstdarstellerisch.

 

Beckmann bringt uns Myschkin, den Gutmenschen, der alles peinlich genau und wahrhaftig nimmt, sehr nahe. Alles heißt: die Menschen und ihre Aussagen, die katholische Religion und ihre Versprechungen, seine eigene Krankheit. Wir sehen diesem bedauernswerten Menschen dabei zu, wie er sich aufreibt in der Gesellschaft, sich aufreibt zwischen den geld- oder standesgeilen Rogoschins (Charly Hübner) oder Jepantschins (Yorck Dippe), vor allem aber zwischen den Nastassjas (Lena Schwarz) und Aglajas (Joerdis Triebel), den Frauen, in die er sich verliebt – und die ihn lieben.

 

Denn dieser kranke 27-Jährige hat Mut, er ist standhaft, immer aufrichtig, er ringt um Haltung – während die Gesellschaft um ihn herum degeneriert. Die Frauen lieben ihn, so hässlich und mittellos er ist. Er überlebt Nastassja, die »dunklere« der beiden Frauen, die bei Lena Schwarz eine femme fatale im Stil des roman und film noir ist.

 

Die Inszenierung bezieht viel aus dieser Krimiästhetik, die sie auf vielen Ebenen spielerisch und überbordend zugleich einfließen lässt. Sie dauert knapp vier Stunden, findet zu einem Rhythmus, der immer wieder bewusst – und nicht selten grenzwertig – außer Takt gerät, mit eingestreuten Erzählerpassagen, Conferencierstückchen, Gruppenspielen, fast undurchschaubar sich abwechselnden Handlungssträngen.

 

Letztlich entsteht so aber doch ein großer Sog, der einen hineinzieht in den hysterischen Mahlstrom dostojewkischer Welt- und Figurenzeichnung. Eine Vorliebe fürs Theatralische muss man dafür allerdings mitbringen.