Hinter dem Schreibtisch geht’s weiter

Anfang Juni findet in Köln, Berlin und Freiburg das Festival »Wider die Müdigkeit!« statt. Es ist zugleich der Abschied der Kölner Literaturhausleiterin Insa Wilke

Die Erschöpfung ist allgegenwärtig. Depression und Burn-out erscheinen als Zeichen der Zeit. Nicht nur in den Schlagzeilen des Boulevards, der diese Erkrankungen gesellschaftsfähig macht. Auch der Buchmarkt hält viele Kommentare zur krankmachenden Leistungsgesellschaft bereit, nicht nur als Ratgeberliteratur, sondern auch als Belletristik, etwa mit Romanen von David Foster Wallace bis Thomas von Steinaecker.

 

Man kann sich diesem Themenkomplex allerdings auch mit einem der großen Texte der Postmoderne nähern: »Watchmen«, dem Meisterwerk von Alan Moore und Dave Gibbons, jener Graphic Novel aus dem Jahr 1986, die als einzige in der Times-Liste der besten 100 Romane Erwähnung fand.

 

Darin steht Adrian »Ozymandias« Veidt vor einer Wand aus Monitoren und erklärt William S. Burroughs’ Cut-up-Prinzip: Die gleichzeitige Beobachtung verschiedener Programme mit ihren Reizen und Einflüssen, heißt es dort, unterbinde jegliche rationale Analyse. So wird die Welt zu einem großen exotischen Fragment, das eine Psychologie der Zukunft erahnen lässt. Die Überforderung wird hier als Chance interpretiert.

 

Bestseller »Müdigkeitsgesellschaft«

 

Man kann sich aber ebenso eingestehen, dass die seelische Ermüdung in Folge eines permanenten Multi-Taskings ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Besonders eindringlich erfährt man dies bei der Lektüre von Byung-Chul Hans schmalem Bändchen »Müdigkeitsgesellschaft«, das 2010 unerwartet zum Bestseller avancierte.

 

Der Karlsruher Professor für Philosophie und Medientheorie beschreibt in kurzen Essays eine Gesellschaft, die nicht an Mangel, sondern am Übermaß erkrankt. Ihr Symptom ist der Infarkt, der sich aus nie erschöpfenden Anforderungen, Erwartungshaltungen und einer unübersichtlichen Vielzahl von Optionen ergibt. Die Multi-Observation und das Multi-Tasking, in denen Moore und Gibbons noch ein erweiterndes Moment, eine Chance sahen, wird zum Erschöpfungssymptom, das sich im gesamten westlichen Lebensstil diagnostizieren lässt. 

 

Diese von Han skizzierte »Müdigkeitsgesellschaft« dient als Leitmotiv des Kulturfestivals »Wider die Müdigkeit!«, dass die Literaturhäuser in Berlin, Freiburg und Köln veranstalten. Was es damit auf sich hat, erklärt Literaturhaus-Chefin Insa Wilke, die sich mit diesem Großprojekt gleichzeitig als Leiterin des Kölner Literaturhauses verabschiedet.

 

 

Frau Wilke, das Schlagwort zum Festival »Wider die Müdigkeit!« lautet »kulturelle Intervention und literarische Aufwachräume«. Wo genau wird interveniert?

 

Das bezieht sich auf einzelne Elemente des Festivals. Ein Schwerpunkt ist die »Müdigkeitsgesellschaft Deutschland«: eine Leistungsgesellschaft mit einem Lebensgefühl, das von Mangel geprägt ist — sozial und politisch. Kulturelle Intervention bezieht sich darauf, dass offenbar Sprechen und Wahrnehmen festgefahren sind. Zum Beispiel das politische oder journalistische Sprechen. Wir sagen: Kunst und kulturelle Aktionen können zu diesem artifiziellen Sprechen eine Alternative bieten.

 

Fordern Sie die Rückkehr der »Engagierten Literatur«?

 

Nein, wir reden nicht vom konkreten politischen Eingreifen, sondern vom Selbstverständnis der Autoren, die sich fragen: Wie leben wir eigentlich zusammen? Und diese verschriftlichten Hoffnungen und Wünsche beinhalten eine Forderung, die allerdings vom Rezipienten wahrgenommen werden muss. Dieser politische Appell liegt eigentlich jeder Literatur zu Grunde. Zumindest einer, die sich Gedanken macht, wie Menschen zusammen leben.

 

Das Festival stellt der »Müdigkeitsgesellschaft Deutschland« den Arabischen Frühling gegenüber. In welchem Verhältnis stehen diese Revolutionen zur westlichen Erschöpfung?

 

Als wir uns über Müdigkeit Gedanken gemacht haben, fingen die Revolutionen gerade an. Eine der Fragen dieser Tage war: Was können wir lernen, als Land, in dem vor nicht allzu Langem auch eine Revolution stattfand, in deren Folge viele Chancen vergeben wurden. Das ist ein Muster bei Revolutionen. Warum kann man diese positiven Energien, die zu Beginn entstehen, nicht umleiten? Warum gehen sie so oft über in eine neue Erstarrung? Das sind Fragen, die Intellektuelle interessieren müssen und über die man Erfahrungen austauschen sollte.

 

Deshalb wollten wir Menschen aus dem deutschsprachigen, dem arabischen und dem osteuropäischen Raum mit ihren jeweiligen Erfahrungen zusammenbringen. Absurderweise hat in Europa niemand mit diesem Aufruhr in der arabischen Welt gerechnet. Obwohl dort klar ein Punkt erreicht war, an dem Menschen einfach nicht mehr konnten. Insofern hat der Arabische Frühling hierzulande die Menschen aus der Müdigkeit aufgeweckt — auf einmal war dieses Interesse da, das sich auch auf uns selbst gerichtet hat. 

 

Das Festival bietet auch Konzerte, Filmabende und Performances.
Ist man mit Literatur allein zu sehr auf sich selbst zurückgeworfen?

 

Literatur entsteht immer in einem Raum, der über den Schreibtisch des Schriftstellers hinausgeht. Da gehört die Gesellschaft dazu, genauso wie andere Künste. Viele Autoren sind von der Musik und der bildenden Kunst beeinflusst. Diese Wechselbeziehung macht für mich diesen erweiterten Raum aus. Das ist die Voraussetzung für die interdisziplinäre Ausrichtung des Literaturhauses. So entsteht auch ein Bedürfnis, über das Erlebte zu sprechen. Das Konzert der tunesischen Sängerin Emel Mathlouthi ist auch deshalb so interessant, weil Melodien und Texte in der Tunesischen Revolution eine wichtige Rolle gespielt haben.