Wir können jeden Tag getötet werden

Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk legt mit seinem neuen Buch »Der letzte Berliner« eine kritische und zugleich sehr persönliche Auseinandersetzung mit Deutschland vor.

»Im heutigen Deutschland ist noch niemand auf die Idee gekommen, einen Roman über ihn zu schreiben«, so ist in Yoram Kaniuks neuem Buch zu lesen, »den Roman über den klugen, allmächtigen Herrscher der deutschen Literatur.« Natürlich schrieb der israelische Autor diesen Satz bereits vor längerer Zeit nieder, denn das Manuskript für »Der letzte Berliner« beendete er vor gut zwei Jahren.

Hoher Aktualitätsbezug

Keineswegs aber wirkt dieses Buch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Martin Walsers »Tod eines Kritikers« veraltet. Im Gegenteil: Kaniuks Auseinandersetzung mit Deutschland verleiht der Debatte eine tiefere Dimension. Nicht nur der Streit um Walsers Roman, sondern auch Jürgen Möllemanns zweifelhafte Wahlkampfstrategie erscheinen wie gemacht für ein weiteres Kapitel in seinem Buch.

Versteckter Antisemitismus, irrationale Ängste

Als die Walser-Debatte losging, hatte Yoram Kaniuk allerdings Deutschland gerade wieder verlassen. Doch als er zu seiner Lesereise eintraf, hatten Möllemanns Attacken gerade ihren Höhepunkt erreicht. »Diese anti-israelische Haltung«, sagt Kaniuk im Gespräch, »spült den versteckten Antisemitismus hervor, den die political correctness unterdrückt hatte.« Auf eben diese Korrektheit legt der Autor in seinem Buch überhaupt keinen Wert. Kaniuk sucht nicht den rationalen Dialog mit den Deutschen, er will eine emotionale Auseinandersetzung, die irrationale Ängste zum Vorschein bringt. Er erzählt eine Fülle beispielhafter, oft grotesker Geschichten: Über Vorurteile, die nur schwer zu überwinden sind, und vor allem über die obsessive Lust, sich einem Trugbild hinzugeben. Kaniuk provoziert gern und zeichnet nicht unbedingt ein freundliches Deutschlandbild, aber er stellt auch seine eigene Haltung immer wieder kritisch in Frage. »Ich bin kein Richter«, sagt er, »ich beobachte Dinge und erzähle sie«.

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Bevor Yoram Kaniuk mit der Arbeit an »Der letzte Berliner« begann, wollte er eigentlich eine Erzählung schreiben: die Geschichte eines Jungen, dessen jüdischer Großvater von Berlin nach Palästina emigriert war. Spielerisch hat der Großvater seinem Enkel die Straßen, Geschäfte, Cafés und Parks seiner Heimatstadt eingeprägt, die so nicht mehr existiert. Der Junge wollte nach Berlin reisen, aber Kaniuk hat diese Erzählung nie zu Ende geschrieben. Stattdessen hat er mit »Der letzte Berliner« ein Buch über seine Suche nach der eigenen deutsch-jüdisch-israelischen Identität geschrieben.

Klein-Berlin in Tel Aviv

»Ich fühle mich wie dieser Junge«, erklärt Kaniuk den Titel seines Buches: »Durch meinen Vater, seine Freunde und all die Menschen, die in den 20er und 30er Jahren emigriert sind, habe ich das Gefühl, das Berlin der Weimarer Republik in mir zu tragen. Dieses Berlin hat nicht nur mein Leben beeinflusst, sondern hatte auch weltweit eine große Bedeutung mit all seinen Schriftstellern, Wissenschaftlern, Tänzern und seinen Theatern, das waren alles Juden und Deutsche. Ich denke, das war eine bestimmte historische Konstellation. Und als das alles endete, hatten wir in Tel Aviv ein kleines Berlin. Es gab ganze Straßenzüge, in denen überwiegend Deutsche lebten.«

Das Trauma der europäischen Flüchtlinge

»Der letzte Berliner« ist allerdings keineswegs ein nostalgisches Werk, das um eine untergegangene Welt trauert. Vielmehr geht es um Konflikte: Als 17-Jähriger nahm Yoram Kaniuk am israelischen Unabhängigkeitskrieg teil und half bei der Bergung der Überlebenden des Holocaust, die täglich an Israels Küsten strandeten. Die schwer traumatisierten Flüchtlinge aus Europa hatten nicht nur mit eigenen Schuldgefühlen zu kämpfen, sondern mussten sich ebenso gegen Ressentiments in Israel zur Wehr setzen. Erinnerungen an diese Zeit flechtet Kaniuk in seine Erzählungen über Deutschland ein.

Begegnungen in Deutschland

Im Winter 1984 machte er seine erste Deutschlandreise, die genau genommen lediglich ein Transit war: Er durchquerte das Land in einem Nachtzug, der von Kopenhagen nach Paris fuhr. Die nächtliche Zugreise bot ihm die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, ohne wirklich dort zu sein. Eine paradoxe Situation, die Kaniuk bewusst an den Anfang seines Buches stellt. Jahrelang hatte er offizielle Einladungen aus der Bundesrepublik ausgeschlagen und damit sein Bedürfnis unterdrückt, die frühere Heimat seines Vaters zu besuchen, der bereits Ende der 20er Jahre emigriert war. Kaniuk ist 1930 in Tel Aviv geboren, inzwischen ist er viele Male in Deutschland gewesen und hat höchst unterschiedliche Menschen getroffen. Von diesen Begegnungen handelt sein Buch.

Parodie und Komik

Der Autor entfaltet ein Kaleidoskop vertrackter deutsch-jüdischer Beziehungen. So berichtet er etwa von einer verstörenden Begegnung, die er auf einer seiner Reisen hatte: Zufällig traf er eine ehemalige Nachbarin aus Tel Aviv, die Ende der 30er Jahre emigriert war. Mit über 80 Jahren ist sie nach Deutschland zurückgekehrt und wollte nun die lange Zeit, die sie in Israel gelebt hatte, völlig aus ihrem Bewusstsein tilgen. In vielen seiner Geschichten entwickelt Kaniuk dabei eine ganz eigene Komik, oft parodiert er mit feiner Ironie und bisweilen auch mit Sarkasmus sich selbst.

Provokation zur Verständignung und Versöhnung

Gleichzeitig bezieht er Position zu aktuellen Debatten wie dem Streit um das Holocaust-Denkmal in Berlin, das er entschieden ablehnt. Oder er berichtet von seiner Kontroverse mit Günter Grass über den Golfkrieg. Kaniuk besteht, auch wenn es um politische Fragen geht, immer auf dem sehr persönlichen, emotionalen Diskurs. Dabei mag man ihm nicht immer folgen. Aber er will provozieren mit diesem Buch, das zugleich jedoch von einer großen Sehnsucht nach Verständigung und Versöhnung geprägt ist. Er wendet sich dezidiert an das deutsche Publikum, bevor die hebräische Ausgabe in die israelischen Buchläden kommt. »Es sollte zuerst hier erscheinen«, sagt er, »weil ich in erster Linie zu den Deutschen spreche.«

Bemühungen um einen isralisch-palästinensischen Dialog

In der aktuellen politischen Situation allerdings ist Yoram Kaniuks vorsichtiger Optimismus einer grundsätzlichen Skepsis gewichen. »Die Haltung Deutschlands«, klagt er, »ist so anti-israelisch und so pro-palästinensisch, dass dabei die Tatsache vergessen wird, dass wir jeden Tag getötet werden können. Das ist nicht nur in Deutschland so«, räumt er ein, »sondern in ganz Europa«. Dabei steht Yoram Kaniuk der Politik Israels kritisch gegenüber. Ende der 80er Jahre gründete er mit seinem palästinensischen Schriftstellerkollegen Emil Habibi ein palästinensisch-israelisches Komitee, das sich aktiv für den Dialog zwischen beiden Gruppen einsetzte. »Ich war einer der ersten, die sich für die Idee zweier gleichberechtigter Staaten stark gemacht haben«, erzählt er, »einen israelischen und einen palästinensischen Staat mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Ich war extrem, keine andere Lösung kam in Frage. Aber allmählich – insbesondere nach Camp David – wurde mir klar, dass die Palästinenser der Teilung des Staates niemals zustimmen werden.«

Kritik an Israels Politik als Ventil für Antisemitismus

Der Terror der Selbstmordattentate hat ihn zermürbt und er beharrt auf dem Recht Israels zur Selbstverteidigung, wobei er auch heute nicht hinter der Politik Ariel Scharons steht. Aber während seiner Lesereise erlebte er, wie Kritik an der israelischen Politik zum Ventil für platte antisemitische Ressentiments wurde. »Wenn ich das Buch heute schreiben müsste«, sagt er, »könnte ich es nicht in dieser Weise tun. Dazu bin ich zu zornig und zu traurig«.

Yoram Kaniuk: Der letzte Berliner. Aus dem Hebräischen von Felix Roth. List Verlag, München 2002, 270 S., 18 €.