Immer hungrig: Monsieur Merde (Denis Lavant) in "Holy Motors"

Online Extra: Die Realität war einmal ein Freund von mir

Nach der Megalomanie des letzten Jahres gaben sich

die Filme des diesjährigen 65. Festivals von Cannes bescheidener

Cannes 2011 war ein Festival der großen Namen und der noch größeren Ambitionen. Folgerichtig hat am Ende die Jury um Präsident Robert De Niro den Filmen mit den größten Namen und größten Ambitionen die Goldene Palme verliehen.

 

Terrence Malicks »Tree of Life« mit Brad Pitt in der Hauptrolle erzählt in knapp zweieinhalb Stunden nicht weniger als die gesamte Vergangenheit und Zukunft unseres Universums vom Urknall bis zur Explosion der Sonne und verknüpft diese Makrogeschichte mit einem Familienschicksal aus dem Texas der 50er Jahre.

 

Ein hoher Favorit hat überraschend gewonnen - in dieses Paradox lässt sich die Preisvergabe der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes fassen. Als Jurypräsident Nanni Moretti am Sonntagabend die Goldene Palme an Michael Haneke für seinen Film »Amour« vergab, konnte er sich der Zustimmung eines Großteils der Festivalbesucher sicher sein.

 

Publikumsliebling: Preisträger Haneke

 

Dennoch war mit diesem Ausgang nicht unbedingt zu rechnen. Zum einen, weil Haneke erst vor drei Jahren die höchste Auszeichnung des wichtigsten Filmfestivals der Welt mit nach Hause genommen hatte – niemand zuvor hat die Trophäe so schnell hintereinander gewonnen -, zum anderen, weil der Italiener Moretti nicht gerade als Fan des Österreichers gilt. Selbst wenn diese persönliche Antipathie nur ein Gerücht sein sollte, die filmische Philosophie der beiden Regisseure ist so weit voneinander entfernt, dass der Hauptpreis für Haneke schwer vorstellbar war.

 

Deutete daher Morettis versteinerte Miene während der Verleihung der Goldenen Palme darauf hin, dass er von seinen Jurykollegen überstimmt wurde? Wäre sein Favorit die Tragikomödie »Reality« seines Landsmanns Matteo Garrone gewesen, der mit dem Großen Preis der Jury vorliebnehmen musste? Dessen humoristisch-humanistischer Ansatz wäre sicherlich Morettis eigenen Vorlieben näher gekommen. Fragen, die unbeantwortet bleiben werden.

 

Cannes 2012 gibt sich bescheiden

 

Beide Hauptpreisträger repräsentierten einen Trend des diesjährigen Wettbewerbs zu größerer Bescheidenheit, sowohl im Vergleich zur letztjährigen Auswahl als auch zum vorherigen Film der Regisseure (es waren dieses Jahr mal wieder einmal nur Männer im  elitären Kreis vertreten).

 

Wurde 2011 in kosmischen Dimensionen gedacht – Terrence Malick erzählte die Geschichte des Universums vom Anfang bis zum Ende im Gewinnerfilm »Tree of Life«; Lars von Trier ließ zu Wagnerklängen in »Melancholia« die Erde in einer Plantenkollision untergehen -, zog man sich 2012 in die eigenen vier Wände zurück.

 

»Amour« spielt mit Ausnahme einer Sequenz ausschließlich in der Altbauwohnung eines alten Ehepaars; »Reality« zunächst in den engen Gassen der Neapolitaner Altstadt und am Ende im abgeriegelten »Big Brother«-Container. Weitere Beispiele für diese eng begrenzten Handlungsorte waren David Cronenbergs »Cosmopolis« und Leos Carax’ »Holy Motors«, die zum Großteil im Inneren von Stretch-Limousinen gedreht wurden.

 

Goldene Palme: »Amour« von Michael Haneke

 

Während Haneke 2009 mit »Das weiße Band« ein weit gefächertes Gesellschaftsporträt des wilhelminischen Deutschlands vorlegte – das den hoch gesteckten Anspruch verfolgte, die Wurzeln des deutschen Faschismus offen zu legen -, erzählt er diesmal die kleine, intime Geschichte. Anne und George sind beide über 80. Als Anne einen Schlaganfall erleidet, beginnt ihr langsamer mentaler und körperlicher Verfall, der mit ihrem Tod enden wird.

 

Wie der letztes Jahr in Cannes ebenfalls mit einem Preis ausgezeichnete »Halt auf freier Strecke« von Andreas Dresen erzählt »Amour« also vom Sterben. So furchtlos und unsentimental beide Filme dem Ableben in die Augen blicken, so sehr erzählen sie dabei auch von einem Idealfall. Die medizinische Versorgung ist gut, größere finanzielle Sorgen gibt es nicht und vor allem: die Familie/der Partner kümmert sich aufopferungsvoll am heimischen Bett. Mehr wagt niemand, dem Kinozuschauer zuzumuten.

 

Preis gilt den Schauspielern

 

So sehr »Amour« auf den ersten Blick ein im positiven Sinne bescheidener Haneke-Film ist – zum großen Humanisten wandelt er sich nicht, wie es in vielen Kritiken bereits geschrieben wurde. Da ist ihm Dresen voraus.

 

Vielleicht ist die Kritik unfair: Aber der Tragik menschlicher Schwäche und menschlichen Verfalls kann ein Perfektionist wie Haneke letztlich nicht gerecht werden. Dass er sich nicht wirklich neu erfindet, zeigt beispielhaft eine Wendung der Handlung, die die intime Geschichte gegen Ende doch noch an die Sphären politisch-gesellschaftlicher Relevanz anbindet - als ob er seiner ganz einfachen Fabel doch nicht so ganz traut.

 

Dass »Amour« dennoch berührt, liegt vor allem an den beiden hervorragenden Hauptdarstellern, dem 81-jährigen Jean-Louis Trintignant und der 85-jährigen Emmanuelle Riva. Zu Recht widmete Haneke die Goldenen Palme ihnen: »Es ist ihr Film, sie sind dessen Essenz«, sagte er bei der Preisverleihung.

 

Großer Preis: »Reality« von Matteo Garrone

 

Nach 2008 kehrt Matteo Garrone erneut mit dem zweitwichtigsten Preis des Festivals zurück nach Italien - wie Haneke hat er einen intimeren Blickwinkel gewählt als in seinem letzen Film.

 

2008 gewann er den Großen Preis des Festivals für »Gomorrha«, einer Verfilmung von Robert Savianos 2006 erschienenem gleichnamigem Bestseller, der den Autor auf die Abschussliste der Neapolitanischen Camorra brachte. Dem glamourösen Mafia-Romantiszismus des US-Kinos setzte »Gomorrha« einen schockierend realistischen Blick auf das organisierte Verbrechen entgegen.

 

Harmlos und gestrig

 

»Reality« wirkt im Vergleich ebenso harmlos wie verspätet. Garrone erzählt die Geschichte eines einfachen Fischhändler aus Neapel, der sich bei der italienischen Variante von »Big Brother« bewirbt und daraufhin immer mehr den Boden unter den Füßen verliert. Obwohl noch gar nicht als Bewohner in der Fernseh-WG aufgenommen, fühlt er sich bereits auf Schritt und Tritt beobachtet. Nur um den – völlig eingebildeten – Anforderungen des Senders an ihn gerecht zu werden, wirft er sein eigentlich glückliches Leben völlig über den Haufen.

 

Ein wenig gestrig erscheint das Thema »Big Brother« im Post-Berlusconi-Italien und wenig zeitgemäß ist auch die Tradition, in die Garrone sich stellt. Nicht nur die Darstellung des Familienlebens einfacher Italiener könnte direkt aus einem Fellini-Film der 50er Jahre stammen.

 

Wie diesem im Kern noch heilen Soziotop die künstliche Welt des Privatfernsehens entgegengestellt wird, sorgt zwar für komische Momente, unterschätzt aber, wie sehr die beiden Welten sich schon durchdrungen haben. Positiv formuliert verweigert sich Garrone jeglichem Zynismus, dafür muss er allerdings in Kauf nehmen, dass sein Film bisweilen ähnlich naiv wirkt, wie seine Hauptfigur.

 

Nanni Morettis Einfluss auf die Jury kann man sicherlich darin sehen, dass mit Ken Loachs »The Angel’s Share« (Preis der Jury) noch eine zweite Komödie ausgezeichnet wurde - eher ungewöhnlich für ein Festival wie Cannes. Mit Ausnahme des Regiepreises für Carlos Reygadas, der mit »Post Tenebras Lux« ein nur phasenweise packendes Bilderrätsel vorlegte, verweigerte sich die Jury dagegen den intellektuell oder filmisch herausforderndsten Werken des diesjährigen Wettbewerbs.

 

Ging leer aus: »Cosmopolis« von David Cronenberg

 

Leer aus ging etwa David Cronenberg, der mit seiner Don-DeLillo-Adaption »Cosmopolis« (Start in Deutschland: 5.7.) wohl Scharen von Robert-Pattinson-Verehrer/innen aus den Kinos jagen wird. Seinen Hauptdarsteller lässt er eine ganz andere Art von Blutsauger spielen als in den »Twilight«-Filmen.

 

In »Cosmopolis« verkörpert Pattinson den milliardenschweren Börsenhai Eric Packer. Im Dauerstau auf dem Weg durch Manhattan zu seinem Friseur steigen immer wieder Menschen in Packers Stretch-Limo und es kommt zu geistreichen Gesprächen über Kunst, Kapitalismus und die Form seiner Prostata. Ein mutiges Werk, das noch stärker als Cronenbergs letzter Film »Eine dunkle Begierde« von der Kraft der Wörter lebt.

 

Ebenfalls preislos: »Holy Motors« von Leos Carax

 

Mindestens genauso gewagt, aber wesentlicher freier ist Leos Carax’ »Holy Motors«, ebenfalls ein Film in dessen Mittelpunkt ein Mann steht, der in einer Stretch-Limo einen Tag lang durch eine Großstadt fährt (hier Paris).

 

Der unvergleichliche Denis Lavant spielt Monsieur Oscar, eine Art Schauspieler, der gewöhnlich weder auf einer Bühne noch vor einer Kamera agiert, sondern Mitten in der Realität ohne ein Publikum im eigentlichen Sinne.

 

Alle paar Stunden wechselt er die Rolle: Mal spielt er eine gebeugte Bettlerin, mal einen Auftragskiller, mal einen sterbenden Mann. Seine ungewöhnlichste Darstellung aber ist die des Monsieur Merde, ein rothaariger Kobold im grünen Anzug, der in einer Fantasiesprache redet und offenbar all unsere Ängste vor dem Fremden und Andersartigen verkörpert.

 

Ob es hinter all diesen Maskeraden einen »echten« Monsieur Oscar gibt mit einem »wahren« Leben, bleibt offen, ebenso, welchem Zweck seine Performances dienen. Vielleicht handelt »Holy Motors« davon, dass solche Fragen irrelevant geworden sind.

 

Die Digitalisierung hat zu solch einer Schwemme von Bildern und zu einer derart weitreichenden Demokratisierung von Öffentlichkeit geführt, dass eine Trennung von »echtem« privatem und gefilmtem oder performtem öffentlichen Leben in einem Maße obsolet geworden ist, wie es sich selbst Theoretiker der Postmoderne vor wenigen Jahren noch nicht vorstellen konnten.

 

»Holy Motors« ist trotz aller Verrätselungen ein weitaus visionäreres Werk über unsere Realität als Garrones vorhersehbare Kritik an virtuellen Trash-TV-Welten - leider hat sich die Jury seinem Zauber verschlossen.

 

Die Preise

Goldene Palme
»Amour« von Michael Haneke

 

Großer Preis
»Reality« von Matteo Garrone

 

Bester Regisseur
Carlos Reygadas für »Post Tenebras Lux«

 

Jurypreis
»The Angel’s Share« von Ken Loach

 

Bester Schauspieler
Mads Mikkelsen in »Jagten« von Thomas Vinerberg

 

Beste Schauspielerin
Cristina Flutur und Cosmina Stratan in »Dupa Dealuri« von Christian Mungiu

 

Bestes Drehbuch
Christian Mungiu für »Dupa Dealuri«

 

Goldene Kamera
»Beasts of the Southern Wild« von Benh Zeitlin