David Graeber: Der Rohstoff des Lebens

David Graeber, mit seinem Buch »Schulden. Die ersten 5000 Jahre« zum Superstar des Anarchismus aufgestiegen, kam nach Köln, las vor ausverkauftem Haus und hatte vorher noch Zeit, mit der StadtRevue über seine konservativen Fans und die Gegenwart des Kommunismus zu sprechen

»Willst du lieber nicht die da interviewen?«, unser Fotograf zeigt auf eine im Look einer Vogelschrecke daherstaksende Frau mit zwei fiesen kleinen Kläffern an ihrer Seite. Die Frau, die das offenbar mitbekommen hat, dass über sie geredet wird, dreht sich um und wirft sich in Erwartung eines Paparazzi schon mal in Pose. Es ist Brigitte Nielsen, aktuelle Dschungelcamp-Gewinnerin und Ex von Sylvester Stallone, die uns da aus dem Kölner Savoy Hotel entgegenkommt.

 

Aber wir haben keine Zeit, in der Lounge wartet schon David Graeber, frischgebackener Bestseller-Autor. Wir wollen mehr über seine Thesen einer anarchistischen Anthropologie erfahren. Die Revolution beginnt, wenn die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, ihre Schulden zu bezahlen, lautet Graebers Hypothese. Damit trifft er in diesen unruhigen Tagen der Geld- und Kreditkrise voll ins Schwarze.

 

StadtRevue: Mr. Graeber, derzeit gibt es in Deutschland kaum eine Tageszeitung, kaum ein Magazin, das »Schulden« nicht groß besprochen hätte. Der Verlag meldet eine Woche nach Veröffentlichung bereits 30.000 verkaufte Exemplare, auf Ihrer Lesereise sind Sie in feinen Hotels untergebracht, Sie treten im deutschen Fernsehen auf…

 

David Graeber: Ja, das ist verrückt, damit hätte ich nie und nimmer gerechnet.

 

Und es sind vor allem für ihre konservative und neoliberale Haltung bekannte Journalisten, die den Hype um Sie entfesselt haben.

 

Faszinierend, oder? In Deutschland scheint mir die Situation besonders zu sein. Aber einen Vorgeschmack darauf habe ich schon in den USA nach dem Erscheinen der Originalausgabe bekommen: Auch dort gab es aufgeschlossene Besprechungen von konservativer Seite. Eigentlich sind die klassischen Konservativen in den USA überhaupt nicht am Erhalt des Systems interessiert, sie verhalten sich zumindest so: sehr destruktiv und hemmungslos raffgierig.

 

Konservativ im eigentlichen Sinne ist derzeit nur Obama, der alles daran setzt, dass dieses System irgendwie überlebt. Ihm gegenüber verhält sich die rechte Opposition regelrecht systemwidrig. Die wenigen Konservativen in den USA, die sich ernsthaft Gedanken um den Kapitalismus und ihre Vormachtstellung darin machen, die lesen eben mein Buch.

 

In Deutschland scheint das noch ausgeprägter zu sein. Mein Eindruck ist, dass die Konservativen verzweifelt nach einer Theorie suchen, die wieder große geschichtliche Zusammenhänge erklärt. Durch die Entfesselung der Finanzmärkte, von den Konservativen vor dreißig Jahren selbst bewirkt, hat sich die Politik jeglichen Planungshorizontes beraubt.

 

Schauen Sie sich an, wie die Politiker in der aktuellen Weltwirtschaftskrise agieren: Sie denken von Quartal zu Quartal, darüber hinaus ist es ihnen nicht möglich, Perspektiven zu skizzieren. Und die Konservativen haben also ein radikal anti-konservatives, sich selbst immer wieder umwälzendes und dabei sich bedrohendes System etabliert. Die marktradikalen Liberalen haben unüberschau-bare und unkontrollierbare Märke geschaffen — also genau das Gegenteil von Handlungsfreiheit und Souveränität hervorgerufen.

 

Wenn die herrschende Klassen nicht mehr weiter weiß, liest sie die Bücher der Gegenseite und adaptiert deren revolutionäre Ideen.

 

Aber nicht nur in Krisen — das tun sie immer. Ich halte viel von der Annahme, dass die Revolutionen der Neuzeit Weltrevolutionen sind. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es keine bloß auf ein Land bezogene Umwälzung mehr. Das bedeutet, dass mit jeder Revolution sich auch das politische Denken ändert — weltweit. Keine Elite kann sich mehr leisten zu sagen, dieses und jenes Ereignis betrifft uns nicht, es findet ja weit weg statt. Leben wir in revolutionären Zeiten? Und ob!

 

Letztes Jahr haben wir die Aufstände im arabischen Raum erlebt, dann eine seit Jahrzehnten so nicht mehr dagewesene Protest- und Besetzungswelle in zahllosen Großstädten. Ich rede hier nicht von Erfolgen, die Revolution hat gerade erst begonnen, es gibt Rückschläge. Aber man kann schon jetzt sagen, dass es wieder Platz für ein neues politisches Denken gibt, dass sich das Alltagsbewusstsein schlagartig geändert hat: Sehr viele Leute haben erfahren, dass sie den lähmenden Ablauf der Dinge aus dem Tritt bringen können. In diese Zeit gehört mein Buch. 

 

Jemand hat mal gesagt, die Zeit für eine Revolution ist dann reif, wenn die Leute es nicht mehr nötig haben, hinter einer roten Flagge herzulaufen. Sie sind Anarchist, der Spruch könnte auch von Ihnen stammen.

 

Ich würde sagen, dass die Bewegung in den Metropolen, die auch unter dem Namen Occupy bekannt geworden ist, anarchistisch ist, weil sie sich weigert, unter einem Label zu firmieren — und sei es des Anarchismus. Das Neue an dieser Bewegung ist ihre Skepsis gegenüber Identitäten und Labels. Ich habe mich vor Jahrzehnten dazu entschlossen, mich Anarchist zu nennen, weil ich das für einen Akt intellektueller Redlichkeit gehalten habe.

 

Heute entdecke ich, dass soziale Bewegungen, unabhängig davon, wie unterschiedlich ihre Geschichte ist, die gleichen Zukunftsideen entwickeln. Ich spreche mit südkoreanischen Gewerkschaftern aus der Automobilindustrie, und sie erzählen mir von ihren Ideen der Selbstverwaltung und des antistaatlichen Kampfes. Das gleiche höre ich auch von kurdischen Freiheitskämpfern in den Bergen der Türkei. Und von New Yorker Angestellten der Post. Diese Gleichzeitigkeit in dem Bestreben nach Autonomie, nach Basisorganisierung, nach antistaatlichem Verhalten ist bahnbrechend.

 

Geht nicht in Ihrem Enthusiasmus eine zentrale soziale Unterscheidung verloren? Dass es nämlich nicht eine Konfrontation der 99 Prozent gegen den winzigen elitären Rest ist, sondern man doch eher von Klassenkampf reden müsste. Offensichtlich will die Occupy-Bewegung das aber nicht.

 

»Wir sind 99 Prozent!« ist ein Slogan, keine wissenschaftliche Aussage, seien Sie nicht so ungnädig! Und sind Sie sicher, dass der Begriff »Klassenkampf«, der auf einer eindeutigen Konfrontation von Arbeitern und Kapitalisten rekurriert, so viel präziser ist? (lacht) Sie machen sich keinen Begriff davon, wie hemmungslos das superreiche eine Prozent in den USA seine Gier und Arroganz ausstellt, wie weitgehend sich Reichtum mittlerweile in politische Macht übersetzt, wie konsequent in den letzten Jahrzehnten jegliche Gesetzgebung dieser Elite zugute gekommen ist.

 

Es gibt keine Korruption in den USA mehr — weil sie legalisiert wurde! Das ist keine Dekadenz, sondern hat damit zu tun, dass sich in der Struktur des Kapitalismus selbst etwas entscheidend verändert. Bloß noch sechzehn Prozent der Profite werden in der Industrie erwirtschaftet, und selbst das ist geschummelt, denn etwa die großen Automobilunternehmen erwirtschaften den Großteil ihres Profites mit Finanzspekulationen, an denen sie sich beteiligen.

 

Als in New York durch Studiengebühren auf Jahre hinaus hochverschuldete Studierende die Parks und Plätze besetzt haben, haben sie auch deshalb von Arbeitern und Angestellten Solidarität erfahren, weil die selbst verschuldet sind. Die erkannten sich in diesem Protest wieder. Ausbeutung findet zunehmen weniger über die Löhne statt, sondern über die direkte Enteignung der Arbeitervermögen durch die sogenannte Finanzindustrie und die brutale Steuergesetzgebung des Staates.

 

Ein Marxist würde an dieser Stelle einwenden, dass diesem Verhältnis immer noch die klassische Verwertung menschlicher Arbeitskraft zugrundeliegt, Industriearbeit ist der Kern dieser Ausbeutung.

 

Der Kern — vielleicht. Aber sie macht nicht ihren Großteil aus.

 

Die Pointe ihrer Forschungen heißt zugespitzt: Wir leben bereits im Kommunismus, weil immer mehr Menschen danach trachten, ihre Beziehungen zu Freunden, Kindern, Verwandten, Genossen nicht nach funktionalistischen, verwertungslogischen Geschichtspunkten zu gestalten, sondern eben nach kommunistischen…

 

(lacht) Ja, genau, zu einem gewissen Grad ist der Kommunismus bereits Realität. Wir haben immer schon in ihm gelebt. Es ist der Rohstoff des Lebens. Aber man kann ihn freilich zerstören, die Gefahr besteht immer.

 

… und heutzutage ist das Kapital nur noch eine Hülle, an sich schon unproduktiv, im Verfall begriffen.

 


Nein, das geht zu weit. Das Kapital ist kein Parasit. Ich würde sagen: Kapitalismus ist die schlechtest mögliche Weise, den Kommunismus zu organisieren. Man kann nicht behaupten, es gibt unter der Hülle des Kapitals intakte Strukturen der Menschlichkeit, unser Leben ist auf mannigfaltige Weise mit dem Kapital verwickelt, diese Verfilzung müssen wir analysieren.

 

Umgekehrt müssen wir uns aber auch vor Augen führen, dass viele Handlungs- und Kommunikationsmuster auf etwas anderes abzielen, als auf Profitmaximierung. Unser Gespräch ist nicht kapitalistisch, Sie können es kapitalistisch verwenden, indem Sie es meistbietend an ein Magazin verkaufen, das damit seine Auflage zu halten hofft. Aber diesen Gebrauch muss man von der ursprünglichen Form der Interaktion unterscheiden.

 

Kommunismus ist für Sie keine Utopie, sondern eine Angelegenheit alltäglicher Praxis.

 


Es gibt eine sehr gefährliche Implikation des Utopischen: die Formulierung eines Idealzustandes, nach dem sich alle, völlig unabhängig von ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten richten müssen. Vor diesem utopischen Denken warne ich.

 

Anders gesagt, Sie streben den Kommunismus nicht an, sondern gehen von ihm aus ...

 


Richtig. Ich weiß gar nicht, ob es so erstrebenswert ist, dass alles kommunistisch organisiert sein muss. Kommunismus ist ja keine Vorschrift.

 

Und Ihre Zweifel an einer kommunistischen Utopie gehen so weit, dass sie sogar von der Forderung nach der Abschaffung des Geldes abrücken, immerhin einer der zentralen Topoi der kommunistischen Bewegung seit Karl Marx.

 

Ob das Geld jemals ganz verschwinden wird, wer kann das sagen? Ich denke, in einer befreiten Gesellschaft ist es möglich, Geld so einzusetzen, dass es seine Funktion als vergleichende Maßeinheit für unterschiedliche Werte behält. Es ist schwer, sich eine komplexe Weltgesellschaft vorzustellen, in der bestimmte unterschiedliche Werte oder Arbeitsleistungen nicht über Geld miteinander vermittelt werden. Es wird diese Zusammenhänge, die Geld als Bezugspunkt erfordern, vermutlich weiterhin geben.

 

Die große Frage ist: Was sind das für Kontexte? Welche gesellschaftlichen Bereiche wollen wir unbedingt aus dem Geldsystem ausklammern? Es ist sehr abstrakt zu sagen, dass die natürlichen Ressourcen und unsere Bedürfnisse unvermittelt zusammengehen und dass es keine Mittlerinstanz mehr zu geben braucht, die ein einsichtiges, planbares Verhältnis zwischen beiden herstellt.

 

Sie zitieren den Historiker Moses Finley…

 

Mein Lieblingszitat!

 

...?»Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu.« Das sei das Programm aller antiken Aufstände. Sie greifen diese Forderung auf. Das ist auch Ihrem begeisterten Rezensenten Frank Schirrmacher aufgefallen, der in leitender Position für die führende konservative Tageszeitung in Deutschland tätig ist, definitiv kein Anarchist. Nun, diese Forderung Finleys, kann man die nicht auch als Appell an den starken Staat verstehen? Es ist immerhin der Staat, der das Gewaltmonopol innehat und eine Neuverteilung des Bodens von oben herab diktieren kann.

 

Wieso den Umweg über den Staat nehmen? Warum ihn nicht direkt attackieren? Wenn wir den Staat abschaffen, schaffen wir auch das Schuldensystem ab und die Eigentumsordnung, die der Staat mit seiner Gewalt aufrechterhält. Es ist einfacher, den Staat abzuschaffen, als von ihm eine Neuordnung der Eigentumsverhältnisse einzufordern.

 

Als der amerikanische Staat sich konstituiert hat, haben das — von der anderen Seite — seine Gründungsväter sehr klar gesehen. Die amerikanische Verfassung, unsere Unabhängigkeitserklärung, ist im Kern nicht demokratisch, sondern schreibt eine Eigentumsordnung fest, die Besitzende privilegiert und Nicht-Besitzende von diesem Reichtum ausschließt. John Adams, einer der Gründungsväter und ab 1797 der zweite Präsident der USA, hatte das erkannt: In einem Land, in dem neun Millionen Einwohner über keinerlei Besitz verfügen, während zwei Millionen alles unter sich aufteilen, würde Demokratie, tatsächlich verstanden als Volksherrschaft, diesem Zustand ein Ende bereiten. Das wollte nicht nur er verhindern. Die Forderung nach der Neuaufteilung des Bodens ist letztlich eine Forderung gegen den Staat.

 

Ihre konservativen Fans erwarten, dass sie bei Ihnen — trotz Ihrer Gesinnung — ein Rezept finden, wie man einen von der Schuldenlast befreiten Boom über ein neues Reformprogramm auslösen kann.

 

Weil es schon mal funktioniert hat.

 

Weil sie hoffen, dass es noch mal funktionieren wird.

 

Nein, sie bangen, dass überhaupt irgendwas funktioniert. Die Eliten sind ratlos. Dann kommen selbst sie zu den Anarchisten.

 

 

David Graeber, Jahrgang 1961, stammt aus einer linken New Yorker Familie. Seit den 90ern engagiert er sich als militanter Aktivist in der No-Global-Bewegung und ist Mitglied der links-radikalen Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World. Bis 2007 war er Professor für Ethnologie an der Eliteuniversität Yale, aus mutmaßlich politischen Gründen wurde sein Vertrag nicht verlängert. Heute lehrt er am Londoner Goldsmith College, lebt aber nach wie vor in New York. Er ist das bekannteste Gesicht der Occupy-Bewegung. Zu seinen Fans in Deutschland zählen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, TV-Moderation Maybrit Illner, die Spiegel-Redaktion, sowie Thomas Meyer, Chefökonom der Deutschen Bank.