Von Gott und Godfather

Der in Köln lebende Autor und Islamforscher Navid Kermani hat fundierte Texte zum Iran, zur islamischen Welt und jüngst zum Nah-Ost-Konflikt veröffentlicht. Jetzt überrascht er mit einem sehr privaten Buch, das sich seiner Lieblingsmusik widmet: »Das Buch der von Neil Young Getöteten«.

 

Der Islamforscher Kermani

Navid Kermani, 1967 in Deutschland geborener Sohn iranischer Eltern, hat sich in den letzten Jahren einen Namen als Kenner, Vermittler und Kritiker der islamischen Welt, speziell des Iran gemacht. Er verfügt als promovierter Islamwissenschaftler über fundierte Kenntnisse auf kulturellem wie theologischem Gebiet. Verschiedene Buch- und etliche Zeitschriftenveröffentlichungen weisen den 35-Jährigen aus.
2001 erschien »Iran. Die Revolution der Kinder«, eine Sammlung von zwölf Texten zur aktuellen Situation im Iran. Zwischen 1995 und 2000 hatte Kermani für die FAZ die Entwicklung des Landes verfolgt. Das Resultat war mehr als nur tagesaktueller Journalismus, und so geben die im Buch versammelten Texte einen guten Einblick in die verschiedenen Verfassungen des Landes: die politische, die religiöse und die der »Volksseele«. Mit der nötigen Nähe zu den Menschen und der gebotenen Distanz zum System vermittelt Kermani die Facetten des Landes und seiner Geschichte: Von »Ajatollah Fußball« bis zum »Großen iranischen Staatstheater« reicht der Blick.
Lettre International veröffentlichte jüngst eine Korrespondenz zwischen Navid Kermani und dem israelischen Soziologen Natan Sznaider, in der es um »Territorium und Terror – Israel und Palästina im Teufelskreis der Argumente« geht. Im Frühjahr war Kermani vor Ort und lernte Sznaider persönlich kennen. Der Lettre-Beitrag ist ein fortgesetztes persönliches und sehr engagiertes Gespräch über die so hoffnungslose Verfahrenheit des palästinensisch-israelischen Konflikts. Ein Dokument argumentativer Verzweiflung, aber eben auch ein eindeutiges Statement für die absolute Notwendigkeit dialogischer Verständigung.

Der Musikfan und Vater

Wenn jetzt von Navid Kermani ein Buch über Rockmusik erscheint, so verwundert das zunächst schon. Er sei »ohnehin ein bunter Hund in der Wissenschaft«, erklärt der Autor, auf diese Irritation angesprochen, mit einem kleinen diebischen Lächeln. Er habe sich etwas erlaubt, was er weder in seinen wissenschaftlichen Arbeiten noch in seinen Reportagen zulasse: Zum ersten Mal spiele sein persönliches Leben und Erleben eine zentrale Rolle. Im »Buch der von Neil Young Getöteten« sind seine Protagonisten Neil Young, die eigene kleine Tochter und er selbst.

Neil Young gegen Kolik

Navid Kermani erlebt das Glück der Vaterschaft und eröffnet seinen Text mit der Erinnerung an die »Drei-Monats-Koliken«, die erste schwere Prüfungsphase seiner neugeborenen Tochter: »Als wolle Gott ihr die Erkenntnis einbleuen, daß sie das Paradies verlassen habe, als wolle er ihr die Erinnerung rauben, oder, schlimmer noch, die Geborgenheit zu einer reinen Erinnerung gerinnen lassen, bekam meine Tochter regelmäßig abends um acht oder halb neun Blähungen.« Schon auf der ersten Seite verpflichtet er sich der selbst geäußerten Grundregel: »Wichtig ist in jedem Falle die Dramaturgie des Textes, egal in welcher Publikationsform.« Und wer wollte behaupten, dass es dieser Situation an Dramatik fehle: die gerade geborene, leidende und schreiende Tochter auf dem Arm des liebenden Vaters. Gut zureden, »Turaluraluralu« summen, ausdauerndes Wiegen vermögen den jämmerlichen Zustand der Kleinen nicht zu lindern. Am vierten Blähungsabend kommt dem hilflosen Vater die Idee, Musik aufzulegen, und wen wundert’s, dass sein tastender Griff mit dem kinderfreien Arm ausgerechnet eine Neil-Young-Scheibe erwischt. Nun geschieht das Erstaunliche: Besser als jede Medizin wirken Gitarre und Stimme Neil Youngs unmittelbar beruhigend auf das Baby. Der Vater kann es zunächst kaum glauben und dreht den Ton vorsichtig ein wenig leiser. Aber mit jedem Song entspannt sich die Tochter in seinen Armen spürbar etwas mehr, bis sie ganz ruhig und andächtig lauschend völligen Frieden gewonnen hat. In den nächsten Tagen und Wochen folgt eine regelrechte Vater-Tochter-Neil-Young-Versuchsreihe. Kermani beschreibt, welche Songauswahl er seiner kleinen Tochter im Laufe der Zeit angedeihen lässt, sie damit verwöhnt und mit den Unbilden ihres beginnenden Erdendaseins versöhnt.

Göttliche Energie

Der Titel »Das Buch der von Neil Young Getöteten« lässt vorderhand Unheilvolles vermuten: Wen soll Neil Young denn getötet haben? Handelt es sich um eine Frau, gar um Kermanis eigene Tochter, oder sind gleich eine ganze Reihe Opfer des Musikers gemeint? Das Geheimnis seiner Titelwahl lüftet Kermani erst in der Mitte des Buches. Er bezieht sich explizit auf ein Kapitel seines 1999 erschienenen Koran-Buchs, in dem es um die Handschrift eines islamischen Mystikers geht, das »Buch der vom Koran Getöteten.« Parallel hierzu entdeckt Kermani auch im Werk Neil Youngs eine bestimmte mystische Energie. »Den extremen Nihilismus der frühen islamischen Mystik finde ich bei Neil Young wieder«. Gemeint ist das Erlebnis der Transformation in einen anderen Seinszustand. Es ist eine Art transitorischer Tod durch Verschmelzung mit einer »göttlichen« Energie. Und diese Erfahrung, so konstatiert Kermani, kann sich durchaus auch in der intensiven Auseinandersetzung mit einem charismatischen Künstler wie Neil Young vermitteln. Der eigentlich unerklärliche Effekt auf das körperliche Wohlbefinden seiner Tochter ist u.a. hierfür ein Argument.

Religiös-mysthischer Touch

Hier schlägt sich eine Brücke zum oben zitierten ersten Satz, mit dem der Autor dem Text von Anfang an einen religiösen Grundakkord verleiht. Ohne blasphemisch werden zu wollen, könnte man es so formulieren: Neil Young ist der »godfather« der Rockmusik, Kermani sein faszinierter Jünger und in mancher Hinsicht auch sein Prophet. Neben einer Menge hintergründiger Gedanken zu den Songs Neil Youngs gibt Kermani in diesem Buch auch ein großes Stück von sich selbst preis. Das macht es sympatisch, zumal Kermani auch ein glänzender Stilist ist, der es versteht, diesem Ausflug in privat-mythologische Zusammenhänge eine genaue und damit in vielem allgemein gültige sprachliche Form zu geben.

Nicht nur für Rockfans und werdende Eltern

Zugegeben, ein wenig Rockmusik-Enthusiasmus hilft bei der Lektüre, aber im Prinzip verhandelt Kermani kein musikspezifisches und auch kein werdenden Eltern vorbehaltenes Thema. Vielmehr führt er die analytische Beschäftigung mit seinem Idol sehr nah an ein Verständnis der eigenen Sozialisation und damit auch der Gesellschaft. Die kühnen Parallelen, die er bisweilen zwischen Youngs Texten und den großen islamischen Mystikern zieht, zeugen von seiner außergewöhnlichen Beschäftigung mit einem einflussreichen Musiker und von persönlicher Hingabe an »die Gleichzeitigkeit von Lust und Schrecken«, die der Autor als Quintessenz der besten musikalischen Begegnungen mit seinem Idol beschreibt.

Musik als Wegbegleiter

Navid Kermani umkreist ganz im Sinne einer großen theologisch-mystischen Tradition den heiligen Moment der Ekstase. Er weiß dabei auch, »daß das Komponierte, Gedachte, Entworfene eine notwendige, jedoch zu überwindende Wirklichkeit darstellt«. Will sagen, so wie sich die Musik Neil Youngs nicht zum bloßen Konsumgut degradieren lässt, so erschöpft sich sein Buch keineswegs in einem ausschließlichen Lobgesang auf den einen großen Musiker. Konsequent seiner Dramaturgie folgend, führt uns Kermani wieder sehr nah an sein eigenes Erleben heran, wo sich auch der physische Kreis von neuem Leben und dem Verlöschen im Tod beinahe schließt. Der Besuch am Krankenbett seines am Herzen operierten Vaters markiert das andere Ende der abgesteckten Strecke, auf der für ihn das »Crazy Horse« und sein Jockey Neil Young so wichtige Begleiter sind. Seine Tochter hört eines Tages auf, sich einzig und allein von den Klängen des Meisters beruhigen zu lassen. Und der ein oder andere Leser legt nach Lektüre des Buches vielleicht auch nicht unbedingt eine Neil-Young-Platte auf. Aber welche Lieblingsmusik es auch immer sei, er hat wohl ein paar Antworten mehr auf die Frage, warum eben diese immer schon »die beste Musik der Welt« war.