Fotos: Manfred Wegener

Bürger gegen Bürger

Hier wird allabendlich die Erneuerung des urbanen Alltags ausgehandelt:

Johannes J. Arens über den Reiz des Brüsseler Platzes

Eine neoromanische Kirche bestimmt den Raum, ihre Fassade ist hinter den dichten Blättern der Platanen aber kaum zu erkennen. Zwei an ihre Wagen gelehnte Taxifahrer diskutieren ein Fußballspiel. Das gastronomische Potenzial des Platzes teilen sich ein indonesisches und ein griechisches Restaurant, eine Bar, ein Bio-Gasthaus und ein typisches Kiosk.

 

Im Schaufenster der Bäckerei mit dem in die Jahre gekommenen Eduscho-Schild arrangiert die Verkäuferin übriggebliebene Plunderteilchen, und die orangefarbenen Buchstaben einer längst aufgegebenen Metzgerei lassen weitere Reste einer vergangenen kleinbürgerlichen Infrastruktur erkennen.

 

Ein Hauch Spießigkeit, ein bisschen Hipness und ein wenig Öko-Flair in den Hochbeeten umgibt heute den Ende des 19. Jahrhunderts geplanten Brüsseler Platz. Orte wie dieser sind in ihrer Durchschnittlichkeit oft in Deutschland zu finden. Kaum zu glauben, dass gerade dieses stadtmorphologische Mittelmaß Kristallisationspunkt eines Konfliktes ist, der über die üblichen Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern, Platznutzern und ansässigen Kiosk- und Kneipenbesitzern weit hinausgeht.

 

Schlaflose gegen Nachteulen

 

Ein von der Stadt Köln in Auftrag gegebenes Plakat in einem City-Light-Kasten lässt erahnen, dass es hier mit der Einforderung geltender Gesetze nicht getan ist. »Lasst uns schlafen!« steht dort über der Abbildung einer schlaflosen Frau in Pop-Art-Anmutung. Die Konfrontationen findet hier nicht zwischen Stadt und einzelnen Delinquenten statt — dieser Rosenkrieg heißt Bürger gegen Bürger, seit der Platz an lauen Sommerabenden zum Inbegriffs eines urbanen Lebensgefühls geworden ist.

 

Aber was bedingt den für viele ärgerlichen Erfolg dieses Ortes? Warum wollen immer mehr Menschen ihr Kölsch nicht mehr in der heimeligen Kneipe trinken und stattdessen ihre Freunde lieber draußen treffen?

 

Früher, so scheint es, war zwar nicht alles besser, aber die Verkehrsregeln des Alltags waren eindeutiger geregelt. Fußball wurde auf dem Sofa oder im Stadion geguckt, in Urlaub fuhr man während der Sommerferien und die Schnurlänge des Wählscheibentelefons bestimmte den Radius, in dem telefoniert werden konnte. Das ist heute alles anders.

 

Alltag im Wandel - und alle müssen mit

 

Die Entgrenzung unterschiedlicher Lebensbereiche erschöpft sich mitnichten in der Diskussion um die Vor- und Nachteile der in Starbucks-Filialen ausgeübten freiberuf­lichen Tätigkeiten. Telefonieren kann man auch an der Supermarktkasse, Billigflüge ermöglichen spontane Wochenend-Trips in ganz Europa, Fußball bedeutet heute Public Viewing und Lifestream auf dem Smartphone.

 

Mit diesen Veränderungen gilt es kritisch, aber angstfrei umzugehen, denn technische Innovation lässt sich weder aufhalten noch zurückdrehen. Schließlich konnte 1452 oder 1826 auch niemand absehen, welche Folgen die Einführung des Buchdrucks respektive der Fotografie mit sich bringen würde.

 

Aber neue Formen der Kommunikation haben in den vergangenen Jahrzehnten alle Bereiche unseres Alltags erfasst. Sie prägen weite Teile des privaten wie des öffent­lichen Lebens und sind somit Artikulation einer neuen ­Bürgerlichkeit, eine Bürgerlichkeit der in der Verantwortung nachrückenden Generationen. Für sie ist Alltag ohne Handy, iPad oder Facebook nicht mehr vorstellbar. Schlichtweg, weil sie ihn nie anders erlebt haben.

 

Sitzblockaden 2.0

 

Der Konflikt um die Nutzung des Brüsseler Platzes ist demnach einer der lokalen Austragungsorte dieser inter­ge­ne­rationellen Auseinandersetzungen, die nicht mehr in Demos und Straßenschlachten, sondern unaufgeregter, wenn auch nicht weniger vehement in mehr oder weniger spontanen nächtlichen Zusammenkünften ausgetragen werden.

 

Der sich aus Klagen, Moderationsverfahren und medialer Berichterstattung konstituierende Diskurs ist ein Beispiel für die permanente Aushandlung von Erneuerung des urbanen Alltags. Es geht dabei um eine Anpassung der »Benutzeroberfläche Stadt« an die Bedürfnisse ihrer Bewohner mitsamt der Konflikte, die sich entlang dieses Updates auftun. Denn der Brüsseler Platz spiegelt in all seiner Mittelmäßigkeit sowohl die Wünsche und Sehnsüchte seiner Anwohner als auch derer, die ihn Abend für Abend in Besitz nehmen.

 

Auf der einen Seite stehen diejenigen Vertreter von früher ebenso revolutionären Lebensentwürfen, die seit 1968 kontinuierlich eine stabile Beziehung zu ihrer Stadt und zu dem sie konstituierenden öffentlichen Raum aufgebaut haben. Hier herrscht das Bedürfnis, sowohl am öffentlichen Alltag eines angesagten multikulturellen Kreativquartiers teilzuhaben, als auch das Recht auf Ruhe in den angrenzenden Privat­wohnungen einfordern zu können.

 

Im Herzen ein Dorfplatz

 

Auf der anderen Seite findet sich jedoch eine von den neuen Formen der Vernetzung geprägte Generation, die diese feine Grenze zwischen privat und öffentlich als aufgelöst erklärt. Sie sieht in Orten wie dem Brüsseler Platz ihre Wunschvorstellung einer zwanglosen Lebensumgebung verwirklicht.

 

Gerade die stadtmorphologische Durchschnittlichkeit der Anlange und gerade die von den Anwohnern so empfindlich verteidigte Nähe von Wohn- und öffentlichem Raum ist dabei ein Schlüssel zum Erfolg des Ortes. Der in der Beengtheit und Überschaubarkeit des Brüsseler Platzes ­allabendlich zum Ausdruck kommende Wunsch nach Nähe und Gemeinsamkeit ist nämlich gleichzeitig ein offen ge­äußertes Bedürfnis nach stabilen Anknüpfungspunkten für eine erneuerte urbane Identität.

 

Und diese Identität kann offenkundig auch nicht mehr durch die andauernde mediale Konzentration auf Dom, Rhein und kölsches Brauhaus gestiftet werden. Die Stadt ist vor dem Hintergrund der durch Mobilität und Veränderung geprägten Lebensentwürfen kein Ort der eigenen Kindheit oder Familiengeschichte mehr, sondern eine von möglicherweise vielen noch folgenden Stationen. Sie wird zur Marke, und die Identifikation mit ihr verläuft über einen Pool aus Erfahrungen, Stimmungen, Wünschen und Sehnsüchten, der im Rahmen einer digitalen Vernetzung ständig neue Impulse bekommt.

 

Der niederländische Medienwissenschaftler Theo Ploeg beschreibt den gegenwärtigen kosmopolitischen Bürger als einen Menschen, der nicht mehr regional oder gar lokal ­verwurzelt ist und sich jederzeit und überall zurechtfindet, solange Starbucks oder Ikea in der Nähe sind. Seine Identität ist ein Konstrukt aus den Interessen der Marken und ab­strakten Wertvorstellungen. Ein Ort wie der Brüsseler Platz, in all seinem beschränkten Format, mit all seinen begleitenden Konflikten, Frustrationen und Verletzungen, ist letztendlich ein Gegenentwurf zu diesen austauschbaren globalen Utopien.