Plattenbau geht gut mit Kunst

Diesen Sommer findet an der belgischen Küste die Kunsttriennale »Beaufort04« statt. Zwischen Dünen, an Strandpromenaden, in ehrwürdigen Seebädern und modernen Shopping-Städtchen haben dreißig europäische Künstler den Alltag mit Skulpturen aufgemischt.

Beim Verlassen des Bahnhofs von Ostende spürt man ihn bereits, angekommen auf der Seeseite der Hafenstadt kann man sich buchstäblich in den Wind hineinlehnen. Nordseewetter. Heute pustet es den Kopf mit scheinbar zehn Windstärken durch, weiter Himmel, schnelle Wolken, unruhiges Meer. Wie sich herausstellt, beste Bedingungen, um jeden Gedanken an eine so zu nennende Frisur aufzugeben, ein paar Wahrnehmungsgewohnheiten mit über Bord zu werfen und sich auf aktuelle Kunst einzulassen.

 

Ostendes neue Wahrzeichen: rote Bauklötze von Quinze

 

An Ostendes großzügiger Strand-Promenade wird sie künftig nicht zu übersehen sein. Signalrot leuchten elf turmhohe, seltsam verbeulte Quader an der Landspitze, unregelmäßig auf einem öffentlichen Platz verteilt, als hätte ein Tsunamie sie gerade aufs Land gespült — oder umgekehrt: Stechen sie demnächst vor den Augen staunender Passanten in See?

 

Von Nahem wirken sie riesig, aus der Ferne betrachtet verschieben sich die Relationen: Ostendes Strand ist, wie in vielen belgischen Seebädern, gesäumt von Hochhäusern, denen nun ein paar rote Bauklötze zu Füßen liegen. Und vor der Weite des Meeres wird sowieso alles Menschengemachte klein, zuweilen lächerlich klein.

 

Die »Rock Strangers« des Belgiers Arne Quinze sollen das neue Wahrzeichen Ostendes werden und gehören zu den prominentesten Werken der Kunsttriennale »Beaufort04«. 400.000 Euro hat die aufwändige Produktion der Metall-Riesen gekostet, inklusive Making-of-Film, Katalog, DVD und der großen Quinze-Schau »Cities like open air museums« in den Venetiaanse Gaanderijen.

 

Kounellis grünbraune Flaschen

 

Der klassizistische Bau wäre auch ohne Ausstellung einen Besuch im Tea Room mit grandiosem Meerblick wert, aber man ist mächtig stolz: Quinze hat mit seinen Installationen — Markenzeichen: die Farbe Rot — in den letzten Jahren international Karriere gemacht. Ein paar Schritte weiter könnte man die unscheinbare Arbeit eines anderen Künstlers leicht übersehen. In einem Mauerbogen hat der Arte-Povera-Begründer Jannis Kounellis grünbraune Flaschen gestapelt, vor denen ein sackleinenes Bündel an einem Seil schwebt. Eine Erinnerung und Hommage an das griechische Fischerdorf, in dem Kounellis seine Jugend verbrachte.

 

Die beiden Werke markieren am besten das Spektrum der vierten, von Phillip Van den Bossche kuratierten »Beaufort«-Ausgabe, die Skulpturen und Installationen von dreißig europäischen Künstlern versammelt. Ostende liegt in der Mitte des über sechzig Kilometer langen Kunstparcours, mit dem die neun teilnehmenden Gemeinden an Flanderns Küste nicht zuletzt an einem Image-Wandel arbeiten: kulturelles Erbe und Gegenwartskunst statt Fritten und von Plattenbauten dominierter Strandkulisse. Und es funktioniert.

 

Kunstparcour entlang der Küstentram »de Lijn«

 

Zwar hat Knokke sich dieses Jahr ausgeklinkt, aber am Meer entlang gute Kunst zu erwandern, ist nah am perfekten Bildungs­urlaub. Dazu trägt nicht wenig »de Lijn«
bei — die Küsten­tram, deren erster Abschnitt 1885 eingeweiht wurde. Sie verbindet als längste Straßenbahn der Welt alle Küstenorte im 15-Minuten-Takt.

 

Also auf nach Westen, Richtung französische Grenze. In Middelkerke hat der Lette Ivars Drulle vor dem denkmalgeschützten Grand Hotel Belle Vue seine Arbeit »I Can Hear It« aufgestellt. Zwei überdimensionale Hörrohre aus Beton, an denen eine bronzene Belle-Epoque-Dame ihr Ohr spitzt, zur  Nachahmung empfohlen. Eine etwas schlichte Idee, um dem Natursound des Meeres zu lauschen, die aber vor dem geschichtlichen Hintergrund an Dimension gewinnt: Das militärische Abhorchen spielte an der Küste im Ersten Weltkrieg eine zentrale Rolle.

 

Einen Strandspaziergang westlich fegt der Wind über zwei metallene Schädel-Formen von Magdalena Abakanowicz, östlich hat ein Werk aus »Beaufort01« überdauert, der »Caterpillar« von Wim Delvoye, eine imposante Kreuzung aus Raupentraktor und gotischer Kirche (!). Die fabelhafte Riesenschildkröte von Jan Fabre überwintert am Deich von Nieuwpoort — einer der schönsten Stationen der Triennale.

 

Das Städtchen selbst, mit dem größten Yachthafen Europas, ist überraschend sehenswert, ebenso die Arbeiten von Hans Op de Beeck, Nedko Solakov und den »Frères Chapuisat«. Das Schweizer Künstler-Duo hat einen igluförmigen Betonklumpen am Strand platziert und ihn »Erratique« getauft. Findling, Bunker, mysteriöses Denkmal? Ist man auf Knien hineingerobbt, belohnt einen im höhlenartigen Innenraum das durch winzige Löcher einfallende Licht mit einem Sternen­himmel-Effekt.

 

Der Belgier Op de Beeck wiederum bespielt gewohnt souverän einen historischen Ort in der Innenstadt. Im alten Munitionsdepot Bommenvrij hat er »Location (8)« installiert, ein rätselhafter Schauplatz mit Bezügen zum Film Noir. Im Halbdunkel führt ein rußschwarzer Holzsteg übers Wasser zu einem kapellenartigen Sitzraum mit weißen Kerzen, die Klangkomposition scheint aus den Tiefen von Raum und Zeit heraufzuklingen.

 

»The Mumbling House« von  Nedko Solakov

 

Am anderen Ende Nieuwpoorts wartet der persönliche Lieblingsort der Autorin: die prächtige, fast ein Jahrhundert lang gründlich abgewohnte Villa Hurlebise. Nedko Solakov hat das verlassene Jugendstil-Eckhaus, dessen Form an einen Schiffsbug erinnert, mit seiner Arbeit »The Mumbling House« poetisch wachgeküsst.

 

Dem bulgarischen Documenta-Künstler genügen ein schwarzer Filzstift und Phantasie, um das Haus und seine Geschichte zum Sprechen zu bringen. »A James Ensor’s still-life lives here« hat er an ein Loch neben dem Kamin gekritzelt, »Almost no Signal« auf eine alte Telefondose, und auch ein Künstler ist zuweilen Mensch: »I want to pee and non of the toilets here are in order.«

 

An Wänden, Möbeln, Lichtschaltern sind im ganzen Gebäude kleine Zeichnungen und ironisch-kritische Bemerkungen angebracht. Man könnte Stunden verweilen. Schade, dass die Villa Hurlebise nach Kunsttriennale und Sanierung wieder einem ordentlichen Zweck zugeführt wird: als Fremdenverkehrsamt.

 

Im Grenzörtchen De Panne langt die Zeit noch für einen Spaziergang durch das Dumont-Viertel mit seinen hübschen Cottages, in einem verbirgt sich eine Installation von Isaac Cordal. Dann ist die Aufnahmefähigkeit erschöpft und die Füße sind lahm.

 

Alle Beaufort-Werke sehen?

 

An einem Wochenende braucht es Mut zur Lücke, und manches ist lässlich — leider weiß man das erst hinterher. Jaume Plensas buddhaähnliche Skulptur kommt im Garten des Abteimuseums Ten Duinen nicht zur Geltung, Melita Coutas »The Wanderer« erinnert verwirrend an den legendären Kasseler »Himmelstürmer«, und dem »Sand Worm« aus geflochtenen Weidenruten von Marco Casagrande hat der letzte Sturm die Flanke eingerissen. Neben diesem schönen Invaliden bleibt von der Tour Richtung Holland Nick Evincks fröhliche gelbe Gischtwelle in den Dünen von Bredene als Erinnerung.

 

Im Zug zurück nach Köln hat man spätestens bei Brüssel all die verpassten Werke rekapituliert — und ist dennoch satt und zufrieden. Von klassisch über experimentell bis an die Grenze zum harmlosen Touristenspaß zeigt Beaufort die Möglichkeiten der zeitgenössischen Außenskulptur. Zusammen mit der »Manifesta 9« in Genk und dem neuen Kunstfestival »TRACK« ist dieser Kunstsommer — »documenta« hin oder
her — ziemlich belgisch.