Foto: Manfred Wegener

Maximale Verbreitung!

Netlabels bieten kostenlose Musik im Netz. Was Kritiker als »Umsonstkultur« geißeln, stellt für viele eine Demokratisierung der Musikvermarktung dar. Den Betreibern und den Künstlern geht es dabei nicht um Geld, sondern um Aufmerksamkeit für ihre Werke. Wir wollen uns näher mit dem Phänomen befassen: ab sofort widmen sich unsere Autoren Marco Trovatello und Frank Christian Stoffel dem Phänomen »Netzmusik« in einer eigenen Kolumne.

Sie fristen noch ein Nischendasein. Doch könnten die weltweit rund 600 Netlabels der Ausgangspunkt sein, das gesamte Musikbusiness umzukrempeln. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Patryk Galuszka. Gerade hat er beim Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung eine Studie dazu erstellt (»Netlabels and Democratization of the Recording Industry«). Diese Graswurzelbewegung einer »Freien Kultur« hat offenbar etwas Entscheidendes erkannt: Im Web 2.0 gibt es anstelle von Geld eine neue Währung, nämlich die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer.

 

Warum aber verschenken Netlabels überhaupt Musik? Moritz »mo.« Sauer vom Kölner Phlow Magazin, einem der ältesten Blogs über Netaudio und Freie Kultur, bestätigt die These Patryk Galuszkas: »Ziel ist die maximale Verbreitung der eigenen Musikproduktionen im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie.« Belegt wird dies durch die oft sehr hohen Downloadzahlen, die vom Internet-Archive  ausgewiesen werden. Die Plattform dient vielen Netlabels als Host, sprich: archive.org stellt die Musikdateien zum kostenlosen Download bereit. 

 

Weit verbreitet unter den Netlabels ist die Nutzung von Creative-Commons-Lizenzen. Sie informieren den Nutzer klar und einfach darüber, was sie mit den Downloads anstellen dürfen und was nicht. Dies garantiert Rechtssicherheit, sowohl für die Nutzer als auch für die Urheber. So dürfen Nutzer die Musik frei herunterladen und beliebig oft kopieren, jedoch nur, wenn die Musik nicht kommerziell genutzt wird. Viele Künstler erlauben mithilfe des flexiblen Creative-Commons-Lizenzmodells darüber hinaus auch Remixe, bisweilen sogar eine kommerzielle Nutzung. 

 

Marco Medkour aus Köln, der sein auf Electronica spezialisiertes Net-label rec72 bereits seit 2007 betreibt, argumentiert vehement für diese oft kritisierte »Umsonstkultur« im Netz. »Wer seine Musik mit Creative Commons lizenziert und kostenlos als schöpferisches Gemeingut ins Netz stellt, der entkriminalisiert seine Fans«, so Medkour. »Wenn die Musik dem Fan gefällt, wirkt er als Multiplikator. Er empfiehlt diese Musik seinen Freunden, die tun dasselbe, und dadurch kommt der Schneeball ins Rollen.« 

 

Obwohl die Musik kostenlos angeboten wird, betreuen und bewerben engagierte Netlabels ihre Künstler ähnlich professionell wie traditionelle Plattenfirmen. Netlabels stehen für ein musikalisches Profil und achten auf Qualität — auch technisch: vom Mix über das Mastering bis zum Artwork. Einige Netlabels bieten zusätzlich liebevoll gestaltete, handgefertigte CDs oder sogar Schallplatten an. Die gibt es natürlich nicht umsonst.

 

Christian Grasse vom Berliner Netlabel »aaahh records« setzt dafür auf Crowdfunding: Wenn genug Menschen Geld geben, um die Plattenproduktion vorzufinanzieren, bekommen sie ein Exemplar. Kommen die 5000 Euro nicht zusammen, gibt es das Geld zurück. Mal klappt es, mal nicht. Zuletzt hat Grasse versucht, eine Vinyl-Ausgabe des Albums »Roadkill« von Entertainment for the Braindead, einem Projekt der Kölner Singer/Songwriterin Julia Kotowski, zu finanzieren.

 

Aber warum jetzt doch wieder Vinyl statt mp3? »Digitale Musik stellt eher ein Nebenbei- oder Entdeckungsmedium dar, Vinyl ist Haptik pur, ein langsames Medium, das Geduld und Zuwendung braucht«, sagt Grasse. »Genau dieser Gegenpol stellt den Reiz dar, vermehrt auf Vinyl zu setzen. Vo-rausgesetzt, Fans verlangen danach.« 

 

Während der Label-Katalog von »aaahh records« stark von Songwriting geprägt ist und rec72 handverlesene Electronica anbietet, gibt es allerdings auch eine Menge beliebiger Veröffentlichungen von elektronischer Musik. So belegt Patryk Galuzkas quantitative Analyse für das Max-Planck-Institut, dass die Netlabels zwar insgesamt ein breites Spektrum musikalischer Genres abdecken, aber auch, dass die Genres Indie/Alternative, Pop, Rock, Folk und Punk eine untergeordnete Rolle spielen. 

 

Dass sich die neue und die alte Vermarktung nicht ausschließen müssen, hat gerade die Musikerin Zoe.leela bewiesen. Vor drei Jahren ist ihr Debüt auf Medkours Label rec72 erschienen. Jetzt ist die Musikerin bei Motor Music unter Vertrag. Dort wird ihr aktuelles Album als CD über die üblichen Vertriebswege in die Läden gebracht. Gleichzeitig aber gibt es das Album via Bandcamp für bloß 5,49 Euro. Und als wäre das nicht genug, ist zudem die unbegrenzte Weitergabe ausdrücklich erlaubt — dank einer Creative-Commons-Lizenz.

 

Der finanzielle Erfolg dieses Experiments ist ungewiss. Aufmerksamkeit auf allen Kanälen hat Zoe.leela aber bereits jetzt — allerdings auch dank häufiger Auftritte auf Urheberrecht-Panels und ihrer Kampagne gegen die Verwertungsgesellschaft GEMA. Zoe.leela hat es so geschafft, aus der unüberschaubaren Masse freier Musik herauszustechen.

 

Orientierung für den Nutzer bieten längst zahlreiche Online-Magazine, Podcasts und Netaudio-DJs. Sie heißen Netlabelism, Progolog. Machtdose oder Inanace. Auch die klassischen elektronischen Medien nehmen sich des Themas Netaudio an: DRadio Kultur Breitband, freeQuency im Internetradio ByteFM oder Radio Fritz Trackback präsentieren regelmäßig aktuelle Netzmusik.

 

Und so könnten die Netlabels bald aus dem Nischendasein heraustreten. Frank Schirrmacher, sonst eher durch Kritik an den neuen Kommunikationsformen aufgefallen, hat für die Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kürzlich sogar den Piraten und Labelbetreiber Bruno Gert Kramm für eine Netaudio-Kolumne engagiert.

 

Hier schon mal fünf Netaudio-Tipps für den Einstieg:

 

Eigenheimer | Eppie (rec72)
Es ist gar nicht so leicht, in der Masse der Electronica-Netaudio-Releases diejenigen mit Charakter zu finden. Stets zuverlässig ist das Kölner Netlabel rec72: Diese Veröffentlichung von Pepijn Oliemuller aus Nijmegen in den Niederlanden mäandert spielerisch durch die Subgenres Experiment, Noise, Ambient und Spielzeug-Techno und erinnert dabei an die frühen LoFi-Electronica-Releases des Kölner Tomlab-Labels.

 

Chuck Morgan | s/t EP (aaahh records)
Die LoFi-Perlen des 23-jährigen Schweden packen einen sofort — zumindest, wenn man Platten von Lou Barlow oder Sebadoh im Schrank stehen hat. Mit schön viel Hall auf der Gitarre, wundervollen Gesangsarrangements und einem Gespür für minimalistische Rhythmen produziert der Songwriter aus Göteborg fragilen Folk und Indierock ohne Beats.

 

Monokle & Galun | In Frame (12rec)
Veröffentlicht im Juni 2010 ist dieses Release des mittlerweile eingestellten Netlabels 12rec heute schon ein Netaudio-Klassiker. Der russische Gitarrist und Produzent Vladislav Kudryavtsev alias Monokle kooperiert hier mit dem Sänger Sergey Galunenko alias Galun. Ein Meilenstein von Album mit Shoegaze, Indietronic und fetten HipHop-Beats.

 

V.A. | #366DaysOfMusic (phlow)
Für jeden Tag des Jahres ein Track unter Creative-Commons-Lizenz! Der Bogen spannt sich weit, kein Genre wird ausgespart. Reggae folgt auf Singer/Songwriter, Drum&Bass steht neben Downbeat. Ein prima Überblick über die Netaudio-Szene.

 

V.A. | BACKUP12 (netlabelism)
Gelungene Compilation als Ergänzung zum Platine-Festival im vergangenen Monat: Chiptunes, Game-Boy-Sounds, 8-Bit-Klangästhetik. Hyperaktive Happy-Lo-Fidelity mit teils ordentlichem Wumms. Für Nicht-Gamer bizarr, aber dennoch unterhaltsam.