Matrikelnummer 08 / 15

Die ab 2003 erhobenen Gebühren für so genannte Langzeitstudenten werden gerade die treffen, die sich außerhalb der Universität wichtige Qualifikationen für den Beruf holen. Verschiedene StudentInnen legen dar, warum die Regelung zum Bumerang werden kann.

Langzeitstudenten müssen zahlen

Hegel und Fernsehen – Mark Krüger hat seine eigene Synthese für den Widerspruch von Philosophiestudium und Jobeinstieg gefunden. Jede zweite Woche steht er um drei Uhr morgens auf, um bei einem Fernsehsender zu arbeiten. Wenn der Klischee-Student nach einer durchzechten Nacht verkatert aufwacht, hat Krüger schon einen halben Arbeitstag hinter sich und ist auf dem Weg zur Uni. Eine Klausur steht an. Büffeln zwischen Frühschicht, Redaktionskonferenz und Privatleben. Das zahlt sich, so hofft er, in doppelter Hinsicht aus. Der schnöde Mammon für den Magen, Kontakte und Erfahrungen für die Zukunft. Die Kehrseite: Werden die Studiengebühren im September im Düsseldorfer Landtag wie geplant verabschiedet, ist Krüger im Sommer 2003 ein Langzeitstudent – und wird wie 30 Prozent seiner Mitstudenten in NRW zur Kasse gebeten.
Die Doppelbelastung ist schon lange nicht mehr nur das Kennzeichen der »modernen Frau«. Zwei Drittel aller Studenten jobben regelmäßig für Kost und Logis. Und für viele könnten die Gebühren das finanzielle Aus bedeuten.

Die Fakten

Ab dem nächsten Sommersemester sollen diejenigen halbjährlich 650 Euro zahlen, die ihre Regelstudienzeit um mehr als vier Semester überziehen. Bei Fächern, die mit weniger als acht Semestern veranschlagt sind, beginnt die Frist nach dem dritten Überziehungssemester, beim Master sind zwei zusätzliche Runden kostenlos. Fachwechsel gibt es ohne Strafgeld nur noch in den ersten beiden Semestern. Zweit- und Seniorenstudium ist von Beginn an kostenpflichtig.

Das »innovative Studienkontenmodell« nützt zunächst einmal dem Landeshaushalt

Das so abgeschöpfte Geld, geschätzte 103 Millionen Euro im Jahr, wird bis 2004 ganz und 2005 zur Hälfte in den Landesetat fließen. Erst danach soll es den Unis direkt zu Gute kommen. Sommerschlussverkauf für die Bildung? Keineswegs, beteuert die rot-grüne Landesregierung. Schließlich finanziere man die Hochschulen aus dem eigenen Haushalt und wolle ab dem Wintersemester 2004/2005, so ließ der stellvertretende Ministerpräsident Michael Vesper kürzlich verlauten, das »innovative Studienkontenmodell« einführen – die Wunderwaffe der SPD-regierten Länder. Regelstudienzeit mal 1,25: Das ist die Formel, mit der das kostenfreie Studium dann begrenzt wird. Liegt also bei einem auf acht Semester angelegtem Studium nach zehn kein Abschluss vor, die Haben-Seite des Kontos mit entsprechender Semesterstundenzahl ist jedoch aufgebraucht, muss gezahlt werden. Vorteile haben davon nur ganz Schnelle, denen die gesparten Stunden beim Aufbau- oder Zweitstudium gutgeschrieben werden. Auf wie viele Semester die festgelegte Stundenzahl insgesamt verteilt werden kann, steht aber noch nicht fest. Möglich ist jedoch, dass die Landesregierung ab Ende 2004 noch schneller zur Kasse bittet, als es in der jetzigen Übergangslösung der Fall ist.

Kleinfamilien müssen draufzahlen

Angst macht diese Entwicklung der Kleinfamilie von Claudia Basten und Jürgen Dannebauer. Beide haben stets neben dem Studium gearbeitet und sind im 15. bzw. 18. Semester. Seit Sohn Phil vor neun Monaten auf die Welt kam, ist Claudia zwar von der Uni beurlaubt, dennoch ist ihre finanzielle Zukunft unklar. Jürgen hat sich inzwischen entschlossen, das Sportstudium abzubrechen, Claudia will, »auch wenn es knapp wird«, auf jeden Fall noch den Abschluss machen. Wo das zusätzliche Geld herkommen soll, wissen beide noch nicht. Zwar dürfen Eltern kostenfrei bis zur doppelten Regelstudienzeit an der Uni bleiben; doch auch die hat Claudia im nächsten Semester schon erreicht.

Besonders betroffen sind die Geisteswissenschaften

»Das ganze System krankt doch. So viel Geld ist ein Witz bei diesen Bedingungen«, schimpft indes Ragna Oswald, die gerade im Examen steckt. Sie studiert im 18. Semester auf Lehramt und ist nicht die einzige, die mit 30 Jahren noch die Bank im Hörsaal drückt. Das Latinum hat gleich mehrere Semester verschlungen, nebenher musste sie Geld verdienen: »Hier im Philosophikum braucht fast jeder so lange.« In der Tat ziehen besonders die Geisteswissenschaften den Schnitt gewaltig nach oben.

Engagemant wird bestraft

Sicher gibt es nach wie vor Bummler, bei den meisten liegt der Grund aber woanders: Für den Magister sind Praktika das Salz in der Suppe, beim Fremdsprachenstudium der Auslandsaufenthalt: »Der müsste eigentlich zur Pflicht gemacht werden«, erzählt die angehende Französischlehrerin Maja Fuchs, »stattdessen wird man für sein Engagement bestraft«.
Auch Britt Weyde versucht den Spagat zwischen teurem Studentenleben und Praxiserfahrung: Die 30-Jährige studiert im 18. Semester Regionalwissenschaften Lateinamerika, jobbt als Fahrradkurierin und hat eine halbe Stelle bei einer Fachzeitschrift. Zudem legte sie vor kurzem die Prüfung zur staatlich anerkannten Übersetzerin und Dolmetscherin für Spanisch ab. Und obwohl sie fast jedes Semester einen Schein gemacht hat, wird sie 2003 zahlen müssen: »Das ist eine ganz böse Selektion«, regt sie sich auf: »Die wollen nur den stromlinienförmigen Einheitsstudenten, sonst nichts.«

Die Konsequenz: Einheitsstudenten ohne Praxiserfahrung

Was die Landesregierung zu vergessen scheint: Gleich sein kann jeder – nur, wer sich von der Masse unterscheidet, punktet im Spiel des freien Marktes und verschafft sich im Ansturm auf die Arbeitsplätze eine gute Startposition. Das schnellste Musterstudium nützt nichts, wenn der fertige Sozialarbeiter noch nie bei der Arbeit mit Menschen in Berührung gekommen ist, der Germanist noch nie einen Verlag, eine Redaktion betreten hat.

Langzeitstudenten erwerben selbstständig die von der Wirtschaft so oft geforderten Schlüsselqualifikationen - das wird in Zukunft kaum noch möglich sein

Die Matrikelnummer 08/15 trägt aber heute kein Studentenausweis mehr. Was Anfang der 90er Jahre den Familienbegriff revolutionierte, passt vielmehr auch auf die studentische Vita: die Patchwork-Metapher. Immer stärker emanzipieren sich die Studenten vom Stundenplan und stellen sich die Module für den Lebenslauf individuell zusammen: Praktika in Medienbetrieben, Agenturen, sozialen Einrichtungen oder Kanzleien, Nebenjobs in der Fabrik und in der Kneipe schulen das, was die Wirtschaft lautstark reklamiert: Berufserfahrung, soziale Kompetenz, Schlüsselqualifikationen. Für seine Anpassung wird der Langzeitstudent nun staatlich bestraft – er ist ein Auslaufmodell und wirtschaftlich nicht mehr tragbar.
Diesen Widerspruch bekommt auch Martin Weber zu spüren. Der 29-jährige VWL-Student zog sein Grundstudium zügig durch, danach aber lockte die freie Marktwirtschaft mit guten Gehältern. In den letzten Jahren war er an der Uni nur sporadisch zu Gast, ansonsten programmierte er in einer großen Medienagentur Computer. Dann kam der Zusammenbruch der New Economy: »Zuerst hat die Wirtschaft nach uns geschrien, jetzt werden die Stellen gestrichen.« Diese ganze Welle schwappt nun wieder an die Unis zurück – und hinein in die Gebührenfalle. Auch Weber kehrt im 21. Semester reumütig in den Schoß der Alma Mater zurück.
Gleichzeitig widerlegt sein Fall das ministerielle Hauptargument für die Gebühren schlechthin: Nicht alle Langzeitstudenten blockieren Plätze für die Neuen. Sie ergreifen die Initiative und verbringen ihre Zeit schlicht und einfach an einem Ort, der ihre Perspektiven wirklich verbessert – und das ist schon lange nicht mehr die lebensferne Uni.

Kaum Ausnahmen

Dem Amtsschimmel ein Schnippchen zu schlagen, das wäre den meisten Studenten momentan eine rechte Genugtuung. Offizielle Ausnahmeregelungen gibt es bisher nur für wenige: Eltern bekommen Aufschub, und zwei Semester Gnadenfrist gibt es für gewählte Vertreter in Uni-Gremien. Wer sein Erststudium abgeschlossen hat, kann kostenfrei promovieren oder ein Erweiterungsfach als Lehrer belegen. Zinshilfen vom Land soll es für die geben, die ein Darlehen aufnehmen müssen.

Unsichere Alternativen

Daneben werden die Pfade verschlungener. Exmatrikulation ist einer davon. Das Problem: Bisher erworbene Scheine gehen verloren. Auch wäre ein gewisses Maß an krimineller Energie nötig, um seinen Lebenslauf zu fälschen und sich an einer anderen NRW-Uni als unbeschriebenes Blatt neu einzuschreiben. Landesflucht ist eine weitere Alternative, aber auch hier sieht es düster aus: In Bayern und Baden-Württemberg gibt es die »Bummel-Gebühren« schon länger; in Berlin, Brandenburg und Niedersachsen fallen zwar bisher nur Rückmeldekosten von 51 Euro an –, doch bis auch hier die Langzeitstudenten als sichere Einnahmequelle entdeckt werden, scheint es nur eine Frage der Zeit. Es wäre nicht das erste Mal, dass das einwohnerstärkste Land NRW Signalwirkung ausübt. Urlaubssemester sind vor allem für Praxis-Fans eine Möglichkeit, die Gebühren hinauszuschieben. Sie könnten mit Praktika oder Jobs ausgefüllt werden und wirken sich nicht nachteilig auf die Studiendauer aus. BaföG gibt es in dieser Zeit allerdings auch nicht. Wie sicher solche Schlupflöcher wirklich sind, lässt sich noch nicht absehen. Die genauen Bestimmungen werden erst nach der Gesetzesratfizierung festgelegt.

Die Sozialbeiträge werden nach oben getrieben

Indes zieht der Gebühren-Bumerang seinen Kreis. Auch das Kölner Studentenwerk wird die Folgen zu spüren bekommen. 20 Prozent der 83.000 Studenten in Köln, so schätzt der Leiter Peter Becker, sind Karteileichen, nutzen also etwa das VRS-Ticket, nehmen aber sonst kaum Angebote an der Uni wahr. Hinzu kommen die, die wegen Geldmangel aufgeben müssen. »Wenn die wegfallen, ist das für uns der Todesstoß«, so Becker. Um die Preise für Mensen und Wohnheime auf heutigem Niveau zu halten, müsste der Sozialbeitrag erhöht werden. Vielleicht genau um jene 50 Euro, die die Studenten durch ihre Proteste erfolgreich abgewendet hatten?

Der Student als Nebensteuerquelle

Wie man es dreht und wendet: Das Dilemma um die Studiengebühren scheint der vorerst letzte Akt in einem Drama, das schon länger gegeben wird. Im Schuldenspiel bekommt der Langzeitstudent eine kleine Rolle: als Nebensteuerquelle. »Mein Geld finanziert dann so sinnlose Projekte wie Garzweiler II oder den Metrorapid«, resümiert Philosophiestudent Krüger. »Die sollen sich ihr Geld bei denen holen, die es haben. Das erwarte ich von einer Partei, die ein ›S‹ für ›Sozial‹ im Namen trägt.«