Kommunikation durch Kaninchen

Dieser Atelierbesuch führt auf ungewohntes Terrain. Die 1968 geborene Kölner Künstlerin Saskia Niehaus ist die diesjährige Trägerin des »Dr. Dormagen-Guffanti-Stipendiums«.

Nicht nur wegen seines widerspenstigen Namens, sondern vielleicht auch, weil es kaum das typische Karriere-Sprungbrett in den Kunstbetrieb ist, ist dieses Stipendium wenig bekannt. Die Stiftung Dr. Dormagen-Guffanti ermöglicht es Saskia Niehaus, wie ihren 15 Stipendien-Vorgängern, ihr Atelier für ein halbes Jahr auf dem Gelände des Städtischen Behindertenzentrums in Köln-Longerich einzurichten.

 

Neben den Bewohnern eines Schwerstbehindertenwohnheims, erzählt Niehaus beim Besichtigungsrundgang, sind hier die Initiativen Emmaus, der Gehörlosenverband und die Aidshilfe beheimatet. »Wie ein Refugium, eine Welt, die in sich funktioniert« erscheint ihr das Areal. Die Stiftung, mit der vor über hundert Jahren die »Krüppelfürsorge« in Deutschland ihren Anfang genommen hatte, geht zurück auf das Vermächtnis des Dr. Hubert Dormagen und des Gutsbesitzers Anton Guffanti und deren Idee, die Kunst zur Heilung der Kranken einzusetzen. 

 

Dass sich Niehaus gezielt für diese ungewöhnliche Förderung, die neben finanzieller Unterstützung auch Präsenz auf dem Gelände vorsieht, bei der Stadt Köln beworben und die Jury überzeugt hat, ist eigentlich folgerichtig. Sie konnte soziale Erfahrungen vorweisen, weil ihre Mutter Lehrerin für geistig Behinderte war und die Schüler sie auch zu Hause besuchten. Doch ausschlaggebend war letztlich, dass ihrer Kunst eine große Offenheit und Neugierde auf alles »Lebendige« innewohnt. Ihr Werk umfasst Zeichnungen und Skulpturen von Menschen und Tieren — Pferd, Kuh, Vogel, Schaf, Ziege, Hase oder Robbe. Mal verschmelzen sie zu bizarren Zwitterwesen, mal lassen sie in einer Gegenüberstellung animalische Züge im Menschen oder humane Attribute im Tier aufblitzen. Niehaus‘ Schöpfungen sind skurril, komisch und sprühend, manche morbide und verstörend. 

 

Mitten auf dem Gelände neben dem Werkstattcafé liegt ihr Atelier. Die Tür steht fast immer offen, aber auch wenn sie geschlossen ist, sind die Künstlerin und ihre Besucher nicht unbeobachtet, beide Längswände haben ein großes Fensterband. An dieses öffentliche Arbeiten musste sie sich erst gewöhnen, erzählt sie, aber es ist ihr auch wichtig, um mit den Bewohnern in Kontakt zu treten. 

 

Ihre Nachbarn sind behinderte Menschen, die in Rollstühlen auf der Terrasse sitzen, gefüttert werden, kaum sprechen, ihre Umwelt beobachten oder — wie die meisten — gänzlich in sich versunken scheinen. Niehaus erzählt, dass man früh morgens oder abends wenig von ihnen sieht, dafür aber umso mehr hört, vor allem ungewohnte Laute. Zum Alltag gehört auch die wenig gezähmte Natur am Lachemer Weg: Niehaus liebt besonders den Platz unter der Birke, aber auch die Kaninchen auf den Rasenflächen, eine Gans, die Ente in der Voliere haben sie zu Bildern inspiriert. 

 

Den Bewohnern nähert sich Niehaus behutsam. Was ihr auf dem Gelände auffällt, zeichnet sie, Tiere, Pflanzen, Rollstühle, und fertigt Kopien davon an. Wenn die Situation passt, bietet sie diese Skizzen den hier lebenden Menschen an, ermöglicht ihnen, sie zu erweitern, indem sie zum Beispiel Farbe darüber setzen. Solche Kunstbegegnungen finden sehr spontan statt. »Das ist eine Form von Kommunikation: Leute zu locken, die sonst nicht zeichnen.« Einfach Zeichenblöcke zu verteilen, wäre in ihren Augen übergriffig. Ihr geht es nicht um Kunsttherapie, sondern um Kontakt. Kontakt mit Kunst, mit einer Künstlerin, die für einige Monate Teil der Gemeinschaft wird. Von dieser Kommunikation profitiert Niehaus genauso wie umgekehrt und deutet auf ein Bild mit einem lachenden Clown: Es ist unter dem Eindruck entstanden, als sie von den Freudenjauchzern einer Bewohnerin mitgerissen wurde.

 

Die Zeichnung einer glatzköpfigen, tanzenden Frau ohne Hände und ohne Füße lenkt die Frage auf einen Begriff, der im Zusammenhang mit Niehaus‘ Werk immer wieder auftaucht und inmitten von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen eine besondere Brisanz bekommt: die Ästhetik des Hässlichen. »Ich empfinde meine Geschöpfe nicht als hässlich. Die Leute meinen, ich zeige hässliche Inhalte. Das Lebendige ist für mich schön. Was ich zeichne, öffnet etwas, was Nähe ermöglicht und etwas berührt.« Sie betrachtet die Zeichnung der entrückt Tanzenden: »Wir Nicht-Behinderte haben vollständige Gliedmaßen und trotzdem Beschränkungen. Aber es gibt Momente, in denen wir uns ganz fühlen.« Viele Wesen auf den Zeichnungen an der Atelierwand strahlen diese Art von Ganzheit aus. Auch die nackte Frau mit dem pelzigen Wildschweinkopf. Ihr Blick ist ernst, aber direkt, das Vogelbein in der oberen Ecke scheint wie Gottes Hand über ihr zu ruhen. 

 

Man darf gespannt sein, wie sich das Leben mit Bewohnern des Geländes weiterhin in diesen Phantasiegestalten wieder findet.